Palästina, Ukraine und anderswo | analogo.de – Die Gründung des Staates Israel und der Mord an Mahatma Gandhi, dem geistig-politischen Gründervater von Indien, geschahen im selben Jahr 1948 innerhalb von nur dreieinhalb Monaten. Es ist fast ein Sinnbild für die Verbundenheit dieser beiden gegensätzlichen Pole. Mit Mahatma Gandhi als Vorbild des gewaltlosen zivilen Widerstandes und Israel – wie es Mahatmas Enkel Arun einmal ausdrückte – dem größten Förderer einer „Kultur der Gewalt“. Schon vor der Gründung Israels lehnte Mahatma Gandhi einen Staat ‚Eretz Yisrael‘ ab, er würde nur zu Gewalt führen. Anlässlich des UNESCO Tages der Gewaltlosigkeit und gleichzeitig von Gandhis Geburtstag (Gandhi Jayanti) publiziert analogo.de eine von Gandhi inspirierte Weltfriedensformel, die für alle Kriege und Konflikte anwendbar ist. Die Formel ist so kurz wie einsichtig: Frieden ist ab jedem beliebigen Zeitpunkt möglich, wenn man den Tod der eigenen Leute akzeptiert. Ein ANA LOGO Long Read.
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Für die UNESCO ist der Internationale Tag der Gewaltlosigkeit eine Gelegenheit, das Ziel einer weltumspannenden Kultur des Friedens, der Toleranz, des Verständnisses und der Gewaltlosigkeit zu bekräftigen. Im besonderen Maße wird der Tag in Indien gefeiert, und zwar zu Ehren ihres geistig-politischen Gründervaters Mahatma Gandhi an Gandhis Geburtstag, dem 02. Oktober.
Indische Botschaften feiern den Tag in all ihren Konsulaten und Botschaften. Ja die Gewaltlosigkeit ist ein konstituierender Teil des Staates Indien. Im Gegensatz zum Staat Israel, für dessen Konstituierung Mord und Totschlag stehen. Zu seinen Lebzeiten äußerte sich Gandhi mehrfach über die Aussicht eines Judenstaates inmitten eines Landes voller Araber. Wir schauen uns das im Folgenden näher an und leiten daraus eine Friedensformel für die Konflikte Palästina/Israel, Ukraine/Russland sowie allen anderen Kriege ab.
Der 02. Oktober wird auch Gandhi Jajanti genannt, was übersetzt Gandhis Geburtstag heißt. Allgemein wird mit einer Geburt etwas Positives verbunden. Gandhi tat so viel für die Geburt eines unabhängigen Staates Indien, dass die Inder ihm zu Ehren alljährlich seinen Geburtstag feiern, und zwar mit dem Motto seines berühmten Grundmotivs der Gewaltlosigkeit.
Nicht viele Länder können von sich behaupten, zum Staat geworden zu sein, ohne dass man dafür ungezählte Menschenleben opferte. Gandhi dahingegen stand für den – wie Gandhi es nannte – zivilen Widerstand, der anderswo auch ziviler Ungehorsam heißt. Hauptsache gewaltlos. Gandhi hatte es mit dem größten Gegner überhaupt zu tun, dem Britischen Weltreich. Keine Armee der Welt hätte es militärisch mit den Briten aufnehmen können, um eine Unabhängigkeit zu erkämpfen.
Wenn der Gegner schon zu stark ist, so Gandhis Überlegung, dann muss ich seine verwerflich-bösen Taten zumindest nicht mittragen, indem ich mit ihm zusammenarbeite. Ich verweigere mich also dem System. Eine Menge Unschönes hatte Gandhi mit den Kolonialherren der Briten erlebt. In Südafrika verhafteten die Briten Gandhi innerhalb von fünf Jahren sechsmal, in Indien innerhalb von 25 Jahren achtmal. Ja die Briten brachten es fertig, Gandhi wegen seiner Gewaltlosigkeit mehrfach einzukerkern.
Inspiriert zeigte sich der kleine Mann von dem Amerikaner Henry David Thoreau und dem Russen Lew bzw. Leo Nikolajewitsch Tolstoi. Tolstoi schrieb die Werke Krieg und Frieden und Anna Karenina. Er stand der institutionellen Kirche kritisch gegenüber und betrachtete ihre Dogmen und Rituale als Verfälschungen der ursprünglichen radikalen Lehren Christi. Seine Überzeugungen führten ihn dazu, ein christlicher Anarchist zu werden, der sich gegen den Staat und jede Form von staatlicher Autorität wandte, da diese seiner Meinung nach von Natur aus mit Gewalt, Urteilsvermögen und Zwang verbunden sind, was er als Widerspruch zu den Lehren Christi ansah.
Leo Tolstois christliche Lehren konzentrierten sich auf eine rationale Interpretation der Bergpredigt Jesu und betonten den Nicht-Widerstand gegen das Böse, die Liebe zu den Feinden und den gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Sich dem Bösen nicht zu widersetzen, sondern die andere Wange hinzuhalten, sei die gewählte Reaktion auf das Böse, um dem Kreislauf aus Gewalt und Leid zu entkommen.
Mahatma Gandhi wird stark von Tolstoi beeinflusst und rät später den Juden, nicht zurückzuschlagen, in ihren Ländern zu bleiben und keinen eigenen Staat aufzubauen, so wie sie es ab 1948 aber sehr wohl getan haben. Genau wie Tolstoi rät Gandhi, die andere Wange hinzuhalten, und auf diese Weise nicht nur spirituelle, sondern explizit auch politische Ziele zu erreichen.

Für die Palästinenser und Ukrainer des Jahres 2025 bedeutet dies, dass sie ihr Ego aufgeben müssen, stärker als der Feind sein zu wollen, und genau wie der Feind Tausende Menschen zu töten. Sei es um den Preis, die Idee eines eigenen Staates aufgeben zu müssen, sind beide nun aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Die meisten Palästinenser haben diesbezüglich eine Menge Richtiges getan, indem sie sich jahrelang von den Israelis haben unterdrücken lassen, ohne die Juden aus Rache selbst zu unterdrücken.
Nicht erst seit dem Jahre 2023 hat der Großteil der Bevölkerung im Gazastreifen alles verloren, was man auch nur verlieren kann. Dadurch hat die Weltöffentlichkeit erkannt, wie grausam der immerwährende Hass der Juden ist, die umso stärker um sich schlagen, desto weniger sie die jahrhundertelange Judenverfolgung vergessen können. Das ist genau das, was Gandhi voraussagte: Egal was dem Aggressor zuvor geschah, nun ist das tötende Israel der Aggressor.
Die Sünde der deutschen Regierungen und Politiker ist, das Töten Israels zu unterstützen. Damit zeigt Deutschland einmal wieder, welch fatal-aggressive Grundeinstellung die Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger hat. Ein fiktiver Mahatma Gandhi Deutschlands in den 2020er Jahren wäre von Politik, Polizei, Justiz und Kooperativ-Medien längst abgeführt worden. Man beschaue sich exemplarisch das Schicksal des Friedenspianisten Arne Schmitt, den das deutsche System gerade mit Wonne und Überzeugung existenziell vernichtet.
20 Jahre vor Gandhis Geburt hatte der Amerikaner Henry David Thoreau das Essay Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam publiziert, in dem er die Menschen dazu ermutigt, ihrem Gewissen zu folgen – und nicht den Gesetzen. Zu Thoreaus Zeiten war die Sklaverei in den USA gesetzlich und vor allem gesellschaftlich verankert. Ähnlich wie WikiLeaks-Chef Julian Assange argumentierte Thoreau, dass jeder, der das Unrechtssystem zulässt, moralisch verwickelt ist.
Welchen Lernprozess muss wohl die Welt durchmachen, um aus der Einsicht, dass Sklaverei böse ist, logisch zu folgern, dass wohl auch das Töten von Menschen in Kriegen böse sein muss? Vielleicht ist diese an sich simple Einsicht so schwer zu begreifen wie ein paar physikalische Grundregeln der Thermodynamik. Der Physiker und Philosoph Albert Einstein jedenfalls bewunderte Gandhis Methoden des gewaltfreien Widerstands. Einstein wollte Gandhi sogar treffen, was aber nicht zustande kam.
Einstein sah in Gandhi einen Anführer seines Volkes, ohne Unterstützung durch äußere Autoritäten. Einen Politiker, dessen Erfolg nicht auf Geschicklichkeit oder der Beherrschung technischer Mittel beruhe, sondern einfach auf der Überzeugungskraft seiner Persönlichkeit. Ein siegreicher Kämpfer, der den Einsatz von Gewalt stets verachtete. Zwischenfazit: Natürlich kann man kämpfen, ohne Gewalt anzuwenden.
Einstein glaubte gar, Gandhis Ansichten seien die aufgeklärtesten bzw. erleuchtetsten (sic. most enlightened) Ansichten aller Politiker unserer Zeit. Einstein bezeichnete Gandhi als Mann voller Weisheit und Demut, ausgestattet mit Entschlossenheit und unbeugsamer Konsequenz, der seine ganze Kraft der Erhebung seines Volkes und der Verbesserung seines Loses gewidmet habe. Ja einen Mann, der der Brutalität Europas mit der Würde eines einfachen Menschen begegnet ist und sich dadurch stets als überlegen erwiesen habe.
Dass es bis dato keinen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag von Einsteins religiösen und philosophischen Ansichten gibt, wirft ein gutes Licht auf die Beschränktheit der Deutschen an sich. Deutschland rühmt sich lieber um die Verdienste des deutschstämmigen Albert Einstein in der Physik – für so Dinge wie die Allgemeine Relativitätstheorie (die obendrein so gut wie keiner versteht).
Der stark durch Gandhi inspirierte Bürgerrechtler Martin Luther King meinte, Christus habe uns die Ziele aufgegeben, und Gandhi die Taktiken. Kann ergo der vor ein paar Tagen von US-Präsident Donald Trump vorgeschlagene Friedensplan für Palästina erfolgreich sein? Die Antwort darauf muss eindeutig lauten: Ja, zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Unter der Bedingung, dass die folgende Friedensformel von Gandhi, Jesus oder Tolstoi greift: Egal was man selber zuvor erlitten hat, Rache ist nicht die Antwort darauf.
Wenn Religion und Staat nach tödlicher Vergeltung rufen
Umgekehrt heißt das natürlich auch für die Juden, dass sie das Massaker durch die Hamas am 07. Oktober 2023 hinzunehmen hatten. Wenn die Religion der Juden etwas anderes vorgibt, nämlich Rache, dann ist es keine Religion. So zumindest argumentierte Gandhi, der jeder Bewegung absprach, eine Religion zu sein, wenn sie praktische Angelegenheiten nicht berücksichtige, die zu ihrer Lösung beitragen.
Der Aspekt der Rache scheint tief im jüdischen Glauben verankert zu sein. In einem historischen Brief an Mahatma Gandhi schreibt der radikal-jüdische Philosoph Martin Mordechai Buber am 24. Februar 1939, die Juden hätten nicht wie Jesus und Gandhi die Lehre der Gewaltlosigkeit verkündet, weil die Juden glauben, dass ein Mensch manchmal Gewalt anwenden muss, um sich selbst oder noch mehr seine Kinder zu retten. […] Wenn es keinen anderen Weg gibt, das Böse daran zu hindern, das Gute zu zerstören, werde ich, so hoffe ich, Gewalt anwenden und mich in Gottes Hände begeben.
Nun mag es eine Frage sein, ab wann man den Aggressor tötet. Die Hemmschwellen deutscher Polizisten zum tödlichen Schuss gegen den Aggressor sind in den letzen Jahren stark gesunken. Oftmals hätte es auch ein gezielter Beinschuss getan, um den Aggressor außer Gefecht zu setzen. Aber das ist die Perspektive staatlichen Bestrafens.
Nur ab wann soll man auf persönlicher Ebene das Töten aufgeben? Ist die eigene Familie von einem oder zwei Aggressoren mit Mordabsicht bedroht, werden die meisten Menschen sagen, dass sie zur Not den Aggressor töten. Anders sieht die Sache aus, wenn der Aggressor eine Übermacht ist. Als Einzelner wird kaum jemand versuchen, die Armee zu töten, die sich vor dem eigenen Haus positioniert hat.
Welche Propaganda ist folglich von Nöten, um Menschen dahinzubewegen, für eine solch abstrakte Konstruktion wie einen Staat zu sterben, wobei man selbst versucht ist, so viele Gegner zu töten als möglich? Es kann nur eine nationalistische Propaganda sein. De facto funktioniert die Politik immer noch nach den nationalistischen Denkmustern des 19. Jahrhunderts – mit all ihren Vorstellungen von Selbstbestimmung, Identität und Souveränität.
Obwohl die Gedanken einer staatlichen Souveränität im arabischen Raum vor gar nicht allzu langer Zeit kaum eine Rolle spielten, verlaufen auch die modernen arabischen Argumentationslinien genau dort. Nun wollen auch die Palästinenser einen eigenen Staat, weil sie von den jüdischen Israelis verfolgt werden. Ebenso wie die jüdischen Israelis einen eigenen Staat wollten, weil sie von der ganzen Welt verfolgt wurden. Und wie die Italiener einen eigenen Staat wollten, weil sie von Habsburg-Österreich beherrscht wurden. Wie die Iren einen eigenen Staat wollten, weil sie von Großbritannien beherrscht wurden, usw. usw.
So wundert es auch nicht, dass sich verstärkt jene Länder mit den augenblicklichen Opfern in Palästina und in der Ukraine solidarisieren, die von anderen Kulturkreisen jahrelang beherrscht wurden. Mit einem starken Sinn für einen befreienden Nationalismus setzte Irland am 17. Dezember 2024 ein deutliches Zeichen, als es in Dublin die Botschafterin des Staates Palästina mit militärischen Ehren empfing.

Auch Gandhi sah im nationalistischen Streben nach einem selbstbestimmten Staat Indien die Möglichkeit, dass seine Leute, sein Stamm, seine Familie, seine Kultur, die indische Substanz, die indische Weisheit, ja die indische Wahrheit sein dürfen. Dazu musste man der kolonialen Ausbeuter aus dem fernen Britannien obsolet werden.
Im Gegensatz zu Israel und der Ukraine baute Gandhis Indien aber nicht immer mehr Raketen und überwachte die ganze Welt mittels elektronischer Soft- und Hardware, sondern man setzte auf gewaltlose Mittel – zum Beispiel ähnlich der Iren gegen den englischen Geldeintreiber Charles Cunningham Boycott. Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis wurde Herr Boycott boykottiert, weil er die Menschen in Irland unterdrückte. Die Marktteilnehmer entschieden sich für einen gewaltfreien Widerstand und ächteten Herrn Boykott und seine Arbeitgeber auf soziale und wirtschaftliche Weise.
Gandhi forderte die Inder auf, britische Gerichte und Lehreinrichtungen zu boykottieren, ja sogar aus dem Staatsdienst auszutreten. In Palästina (wovon Israel ein Teil ist) wären dementsprechend Professoren, Lehrer und Richter aufgefordert, dasselbe zu tun.
Dass weder ein Staat noch die Staatsform Demokratie die idelae Lösung für ein Miteinander ist, zeigt die Tatsache, dass die indische Gesellschaft bis heute am rassistischen Kastensystem festhält. Gandhi hätte gesagt, step-by-step, Haupsache keine Gewalt. Aber, laut Gandhi, mache das Prinzip Auge um Auge die ganze Welt blind. Gewaltlosigkeit sei kein Kleidungsstück, das man nach Belieben an- und ausziehen könne. Gewaltlosigkeit habe ihren Sitz im Herzen und müsse ein untrennbarer Teil unseres Wesens sein.
Es gäbe auch keinen Weg zum Frieden, Frieden sei der Weg. Eine simple Formel, die von der Mehrheit der Deutschen bis heute entweder kaum verstanden oder aber eine niedrige Priorität eingeräumt wird. Warum anders wählen Deutsche immerfort waffenverkaufsprotegierende und somit kriegstreibende Parteien?
Gewaltlosigkeit sei eine Waffe der Starken, sagte Gandhi weiter. Demnach müssen der antichristliche Bundeskanzler Friedrich Merz (100% deutschen Ursprungs), der kriegsfreudige Britenkönig Charles II. (70% deutschen Ursprungs) sowie US-Präsident Donald Trump (50% deutschen Ursprungs) mit all ihrer Kriegslust sehr schwache Menschen sein. Diesen drei deutschstämmigen Feldherren ist gemein, egomanisch veranlagt zu sein. Womit sie noch einmal diametral gegen Gandhis Überzeugung stehen, sein Ego aufgeben zu müssen – welches dazu neige, nach Vergeltung zu rufen.
Gandhi wusste, dass auch die Araber ein stolzes Volk sind und es daher nicht so einfach zulassen werden, dass sich die Juden auf ihrem Gelände einen eigenen Staat einrichten. Bereits im März des Jahres 1921 gab Gandhi eine Erklärung ab, in der er die Forderung unterstützte, dass die Muslime die Kontrolle über Eretz Yisrael behalten müssten. Palästina gehöre den Arabern in demselben Sinne, wie England den Engländern oder Frankreich den Franzosen gehört. Es sei falsch und unmenschlich, den Arabern die Juden aufzuzwingen. Was in Palästina geschehe, lasse sich durch keinen moralischen Verhaltenskodex rechtfertigen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch längst keinen Staat Israel.
Gandhis Glaube an Gewaltlosigkeit kommt durch das hinduistisch-buddhistische Prinzip Ahimsa zur Wirkung. Ahimsa steht dafür, andere Menschen und Tiere nicht zu verletzen, auch nicht mit Worten und Gedanken. Neben dem Mitgefühl (Karuna) gehört auch die Gewaltlosigkeit (Ahimsa) zum Doppelprinzip des Dalai Lama. Wenn einige Araber die Juden nun „zurück ins Meer“ treiben wollen, würden sie nicht nach dem Ahimsaprinzip leben.
Wenn Juden über die ganze Welt verstreut sind, sich aber – wie der Komponist Gustav Mahler – nirgends zuhause fühlen, wenn sie sich überall im Exil fühlen, sich daher – wie Martin Buber an Gandhi schrieb, von höherer Stelle berufen fühlen, irgendwann zurück nach Palästina zu kehren, um von dort zu regieren, und damit die dort siedelnden Araber verdrängen, dann leben Juden nicht nach dem Ahimsaprinzip.
Dann verletzen Juden andere, damit sie sein dürfen. Nach Gandhi ist dies eine schlechte Existenzgrundlage. Ein auserwähltes Volk ist nicht auserwählt, indem es andere Völker tötet. Der Evolutionsbiologe Charles Darwin hat dafür zwar ein Prinzip formuliert, es dürfte aber gegen die Vernunft und das Gewissen fast aller Menschen auf diesem Erdball stehen.
Im Kern von Darwins Evolutionstheorie steht die natürliche Selektion, nach der mit größerer Wahrscheinlichkeit diejenigen Nachkommen haben, die mit den Umweltverhältnissen am besten zurecht kommen. Beim oftmals falsch gedeuteten ‚Überleben des Stärkeren‘ im Sinne Darwins überlebt also kein Stärkerer, weil er den anderen verdrängt hat, sondern weil er Nachkommen zeugt, womit sich sein eigenes genetisches Material weiterwirkt.
Wer also ganz gut mit Freiheitseinschränkungen, totalitären Überwachung und der Terrororgansiation Antifa in deutschen Städten zurecht kommt, und meint, in eine solche (Um-) Welt Kinder setzen zu müssen bzw. zu wollen, der gilt nach Darwins Evolutionstheorie als der ‚Stärkere‘. Wer hingegen meint, dass das alles nicht so toll sei und dass man eine solche Welt den Kindern am besten nicht antut, der gilt als der ‚Schwächere‘.
Gandhi sah sehr wohl, wie es den Juden im Deutschland der Nazis erging. Dennoch wies er Martin Bubers Entschuldigung zurück, deshalb das Land zu verlassen. Gandhi meinte hierzu: Wäre er Jude und in Deutschland geboren und würde dort seinen Lebensunterhalt verdienen, würde er Deutschland ebenso wie der größte nichtjüdische Deutsche als seine Heimat beanspruchen und ihn herausfordern, mich zu erschießen oder in den Kerker zu werfen. Am 26. November 1938 schrieb er:
„Ich würde mich weigern, ausgewiesen zu werden oder mich diskriminierender Behandlung zu unterwerfen. Und dafür sollte ich nicht darauf warten, dass sich meine jüdischen Mitmenschen meinem zivilen Widerstand anschließen, sondern darauf vertrauen, dass die anderen letztendlich meinem Beispiel folgen werden. Wenn ein Jude oder alle Juden die hier vorgeschlagene Lösung akzeptieren würden, könnten sie nicht schlechter dran sein als jetzt. Und freiwillig auf sich genommenes Leid wird ihnen eine innere Stärke und Freude bringen, die keine noch so vielen Sympathiebekundungen außerhalb Deutschlands ihnen geben können. Selbst wenn Großbritannien, Frankreich und Amerika Deutschland den Krieg erklären würden, könnten sie ihnen keine innere Freude und keine innere Stärke geben. Die kalkulierte Gewalt Hitlers könnte sogar zu einem allgemeinen Massaker an den Juden führen, als seine erste Antwort auf die Kriegserklärung. Aber wenn die jüdische Seele auf freiwilliges Leiden vorbereitet wäre, könnte sogar das von mir vorgestellte Massaker zu einem Tag der Dankbarkeit und Freude werden, dass Tetragramm die Befreiung des Volkes selbst durch die Hand des Tyrannen bewirkt hat. Denn für den gottesfürchtigen Menschen hat der Tod keinen Schrecken. Er ist ein freudiger Schlaf, auf den ein Erwachen folgt, das umso erfrischender ist, weil es auf einen langen Schlaf folgt.“
Hier ist es wieder, das freiwillige Leiden, zu dem man bereit sein muss, um den Gewaltzyklus zu durchbrechen und den Konflikt in etwas Lebensfähiges zu transformieren. Sollen die Palästinenser also im Gazastreifen ausharren, selbst wenn diese Region von Israels Armee plattgebombt wurde? Oder soll man wie der Schriftsteller Thomas Mann das Land der Nazis verlassen, weil seine Schriften verbrannt werden und ein Monster am Horizont auftaucht?
Für seine Emigration erntete Thomas Mann Kritik von anderen Schriftstellern, durch seine „bequeme Flucht“ habe er das sinkende Schiff verlassen. Mann hielt dagegen, dass die meisten von ihnen ja auch in eine Emigration flüchteten, und zwar in eine innere Emigration – anstatt sich dem Regime zu widersetzen. Das Virus der inneren Emigration, also die depressive Aufgabe der Teilnahme am Öffentlichen, grassiert seit einiger Zeit wieder in Deutschland, exemplarisch abzulesen an niedrigen Wahlbeteiligungen.
Unter keinen Umständen glaubte Gandhi an Krieg, und kam im Bezug auf Juden/Nazis zu dem Schluss, dass es keinen Krieg gegen Deutschland geben könne, selbst für ein Verbrechen wie das, das gegen die Juden begangen werde. Mit einer Ausnahme: Wenn es jemals einen gerechtfertigten Krieg im Namen und für die Menschheit geben könnte, dann wäre der Krieg gegen Deutschland gerechtfertigt, um die mutwillige Verfolgung einer ganzen Rasse zu verhindern.
Damit sind wir beim Vorwurf, dass Israel derzeit einen Völkermord gegen die Palästinenser vollzieht. Im oben erwähnten Brief schreibt Buber an Gandhi, wenn es keinen anderen Weg gäbe, das Böse daran zu hindern, das Gute zu zerstören, werde er, so hoffe er, Gewalt anwenden und sich in Gottes Hände begeben.
Das Böse beginnt allerdings schon unterhalb der Völkermordschwelle. Für die Antifa beginnt das Böse beim falschen Setzen eines Kreuzchens bei der Bundestagswahl. Viele Juden greifen anscheinend weit vor der Völkermordschwelle willig und bewusst zur tötenden Tat.
Sicherlich ist derzeit nicht das ganze Volk der Palästinenser vom Völkermord bedroht, als dass sich Millionen von ihnen bereits seit Jahrzehnten nach Jordanien, Kuwait, Syrien und in den Libanon geflüchtet hatten. Israel behauptet nicht, alle Palästinenser vernichten zu wollen. Aber Israel vernichtet die Existenz aller Palästinenser im Gazastreifen und – wie es aussieht – auch bald im Westjordanland.
Vielleicht tötet Israel nicht alle Palästinenser, aber es nimmt den Palästinensern den Raum zum Leben, sinnbildlich die Luft zum Atmen. Da es aber ohne Raum keine Kultur gibt, es Räume braucht, um Kultur auch praktizieren zu können, exerziert Israel in Gaza und im Westjordanland wohl keinen Völkermord, aber ganz bestimmt einen Bevölkerungsmord.
Gandhi hatte keinen Zweifel, dass die Juden falsch vorgehen, indem sie mit Hilfe des Britischen Reiches ein Land inmitten Arabiens in Besitz nehmen. Das Palästina der biblischen Vorstellung sei kein geografisches Gebiet, es liege in ihren Herzen, so Gandhi. Aber wenn sie das geografische Palästina als ihre nationale Heimat betrachten müssen, sei es falsch, es unter dem Schatten britischer Waffen zu betreten. Eine religiöse Handlung könne nicht mit Hilfe von Bajonetten oder Bomben vollzogen werden.
Gandhi geht hier auf die immer wieder geäußerte Behauptung ein (siehe auch Martin Bubers Brief an Gandhi), durch die Besiedelung Palästinas erfülle man nur den Willen Gottes und das Gebot der Gerechtigkeit, welches Israel in der Bibel gegeben worden sei. Die Inbesitznahme von Israel habe etwas Materielles zur Basis, zum Beispiel den [Red. 765 Meter hohen] Berg Zion in Jerusalem, so Buber. Hier in Palästina sei etwas, das kein Vergessen zulasse und von dem es kein Entkommen gebe. Die Rückkehr nach Palästina sei den Juden „auferlegt“ worden, sie seien ins Exil gegangen, ohne ihre „Aufgabe erfüllt zu haben“. Ob das wohl der Grund ist, dass sich Juden kaum irgendwo zuhause fühlen?
Buber führt weiter aus:
„Aber der Befehl blieb uns erhalten und er ist dringlicher denn je geworden. Wir brauchen unseren eigenen Boden, um ihn zu erfüllen. Wir brauchen die Freiheit, unser Leben selbst zu gestalten. Auf fremdem Boden und unter fremden Gesetzen kann kein Versuch unternommen werden. Der Boden und die Freiheit zur Erfüllung dürfen uns nicht verwehrt werden. Wir sind nicht habgierig, Mahatma; unser einziger Wunsch ist es, endlich gehorchen zu können.“
Gandhi meint dazu, die Juden könnten sich nur mit dem Wohlwollen der Araber in Palästina niederlassen. Sie sollten versuchen, die Herzen der Araber zu gewinnen. Der gleiche Gott regiere die Herzen der Araber wie die Herzen der Juden. Sie können vor den Arabern Satyagraha praktizieren und sich erschießen oder ins Tote Meer werfen lassen, ohne einen Finger gegen sie zu rühren. Sie würden feststellen, dass die Weltöffentlichkeit ihre religiösen Bestrebungen befürworte. Es gebe Hunderte von Möglichkeiten, mit den Arabern zu argumentieren, wenn sie nur die Hilfe des britischen Bajonetts ablehnen würden.
Während also so viele Juden ihrem Gott gehorchen, indem sie Palästina von den Arabern zurückerobern, ist das britische Bajonett zum britisch-deutsch-amerikanischen Bajonett angeschwollen. Diese mithin anti-christliche Schwellung verhindert, dass die Wahrheit sich entfalten kann. Sie ist anti-christlich, weil sie Waffen und Krieg zum Töten einsetzt.
Der wichtigste Gott Gandhis hieß weder Brahma noch Vishnu, sondern Wahrheit (Satja, Prawda, Truth, etc.). Gandhis Gott war ein Prinzip. Ein Weg voller Liebe sei mindestens so wichtig wie das Ziel selbst. Es geht also nicht darum, ob Russland einen Anspruch auf die Ukraine haben darf, sondern um die Mittel, die es einsetzt, um diesen Anspruch durchzusetzen. In Palästina geht es nicht darum, ob die Juden einen Anspruch auf Palästina haben dürfen, sondern um die Mittel, die sie einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen. Und umgekehrt, ob jetzt der Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat überhaupt noch legitim ist, nachdem sie nun einmal in der Verliererposition angekommen sind.
Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, ein Vorfahre des Hamburger Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, brachte es 1783 auf den Punkt. In seinem Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum ruft er weltliche Staaten zu religiöser Toleranz auf. Die Frage ist nur, ob es ein Bestandteil der Religion ist, andere wegzubeißen. Das gilt ebenso für Juden wie Muslime und Christen. Oder ob – mit Gandhi gesprochen – nicht unilaterale gewaltlose Integration der bessere Weg ist.
Mahatma Gandhi war gegen eine Aufteilung Indiens in ein muslimisches Pakistan und hinduistisches Indien. Er meinte, Indien sollte trotz seiner religiösen Vielfalt vereint bleiben, Muslime und Hindus seien „Söhne desselben Bodens“. Eine Aufteilung Indiens sei auch für die Sache des Islam selbst schädlich. Auch in der Judenfrage war Gandhi allenfalls für eine Integration der Minderheit der Juden in die Mehrheit der Palästinenser. Am Ende erteilte Gandhi dasselbe Schicksal, welches so viele andere Friedensstifter ereilte. Er wurde erschossen.
Im Augenblick sitzt Israel am langen Hebel, aber über die Jahre könnten sich die Karten ändern. Die jüdische Gemeinschaft und ja, der jetzige Staat Israel wären gut beraten, Gandhis Friedensformel ins Gepäck zu nehmen, um kurzfristig alle jüdisch-amerikanisch-britisch-deutschen Wachtürme abzubauen und sich langfristig in die Gemeinschaft der sie umgebenden Länder zu integrieren.
Sollten nämlich Stimmung und Kräfteverhältnisse kippen, bräuchte Israel vielleicht schneller als gedacht einen neuen Moses, der sein Volk zurück in die Länder führt, aus denen sie kamen. Womit gar – wenn es schlecht läuft – der Versuchsballon eines Staates Israel in den Geschichtsbüchern verschwunden wäre, bevor er im Jahre 2048 sein Einhundertjähriges feierte.
