„Om mani padme hum“ oder die USA als Schutzgott von Tibet?

Lhasa, Himachal Pradesh, New York | analogo.de – Völkermord, Psychoterror, Überwachung, Chinas Methoden gegen Tibeter sind totalitär. Doch selbst wenn Chinas Polizei 100 Prozent aller Tibeter aus Tibet vertreibt, wird der Geist Tibets fortbestehen. Ein reinrassig chinesisches Tibet würde das einst als so seelenreich gepriesene Dach der Welt zu einer der seelenlosesten Weltgegenden machen. Längst wendet China Methoden aus George Orwells Roman 1984 auf alle Tibeter an. Das Ziel: Die tibetische Identität der Kultur durch Prozesse beseitigen, Tibet einen langsamen Tod sterben lassen. Die USA halten dagegen. Wie steht der Dalai Lama dazu? Teil 2 meines Essays über die geopolitische Situation Tibets – anlässlich des 89. Geburtstages des Dalai Lamas.

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Als ich vor einigen Jahren Dharamsala besuche, also die Ortschaft der tibetischen Exilregierung in Nordindien, sitzt eine Protestgruppe rot gewandeter Tibeter in einer Gasse. Auf einem Banner lese ich: „Tibet will not die, because there is no death for the human spirit.“ Tibet wird nicht sterben, weil es für den menschlichen Geist keinen Tod gibt. Das war genau 40 Jahre nach der Flucht des Dalai Lamas aus Lhasa nach Indien.

Nun steht bald die Nachfolge des Dalai Lamas an, und dies hat geopolitische Implikationen. Vor allem ist es für Tibet ein Meilenstein, denn der jetzige Würdenträger bekleidet seine Position als 14. Dalai Lama bereits seit 74 Jahren. Die USA haben angekündigt, es nicht zulassen zu wollen, dass China sich in die Auswahl des 15. Dalai Lamas einmischt. So Michael McCaul, republikanischer Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, bei seinem Besuch vor drei Wochen in Dharamsala.

Tibet rüstet sich für energische Zeiten. Wie schon 2008. Im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Peking verbietet China den Tibetern, Bilder des Dalai Lama aufzuhängen. Den Tibetern ist klar, dass die sie durch die Olympischen Spiele eine Bühne für ihre Sache haben. Aber die Spiele sind nur ein Anlass. 2008 und 2009 kommt es in Tibet zu massenhaften Protesten, denen China gewalttätig begegnet. Tausende Verletzte plus hunderte Tote, wie schon 1996 zuvor. Oder 1959. Oder 1950.

China scheint es einfach nicht zu kapieren, dass es in Tibet nichts zu suchen hat. Und doch sind China und Tibet Nachbarn. Eine der Hochburgen Tibets liegt nahe dem chinesischen Kernland. Der jetzige Dalai Lama stammt von dort. Die Provinz heißt Domai bzw. Amdo, das Land der Pferde.

Das Unabhängigkeitsbestreben Tibets ist für China eines der fünf Gifte, in einer Reihe mit dem Unabhängigkeitsbestreben der Uiguren, Taiwans Streben nach einem eigenen Staat, der regimekritischen Gruppe Falun-Gong und der allgemeinen Demokratiebewegung.

Menschenrechtsorganisationen werfen China rund 1,2 Millionen tote Tibeter vor, alleine in den 30 Jahren zwischen 1949 und 1979. Bhuchung Tsering spricht von der physischen Zerstörung Tibets. China habe das gesamte tibetische Volk seiner Identität und seines Zugehörigkeitsgefühls beraubt.

Heinrich Harrer, ein naher Freund des Dalai Lama und zufällig auch am 06. Juli geboren, beklagte nach seinem Tibetbesuch 1982, wie China in Tibet seitdem gehaust hatte, wie Kulturschätze zerstört worden waren, wie Tibeter in Konzentrationslagern verschwanden und viele andere einfach ermordet wurden.

Die alte Hauptstadt Spitis, Dhankar Gompa, auf einem Felsgrat 3.850 m über N.N. Der alte Glanz tibetischer Kultur ist verschwunden. Es gibt noch einige schlichte Zimmer mit prächtigen Malereien. Das Kloster ist eines der 100 am stärksten gefährdeten Orte der Welt. Foto: Rainer Winters

Na toll, was hat denn China davon, wenn hier nur noch regierungstreue Chinesen leben und die wahren Tibeter im Ausland? So wie im Westjordanland immer mehr israelische Siedler leben, die die nativen Palästinenser vertrieben haben? Oder die regimetreuen Deutschen, die die nativen Deutschen ins Ausland vertrieben haben?

Tibet ist überall

In seiner letztjährigen Rede verdeutlicht Bhuchung Tsering, dass „unsere tibetischen Brüder und Schwestern im Jahre 2023 nicht in der Lage sind, ihr wahres Denken offen zu zeigen“. Man könnte meinen, Bhuchung spricht vom Deutschland des 21. Jahrhunderts, in dem man auch nicht mehr seine Meinung sagen darf, und wenn doch, man mit Sanktionen rechnen muss, die da heißen: De-Banking, Cancel-Culture, Denunziation, Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Inhaftierung, und so weiter und so fort.

Derzeit forciert Chinas Polizeiapparat die Umsiedlung tausender Tibeter, oftmals mehrere Hundert Kilometer weg von ihrer Heimat. China baut dem Widerstand vor, den es rund um die Nachfolgeregelung des Dalai Lamas erwartet.

Mit der verschwundenen Örtlichkeit vergilben in der Regel auch Kultur und Identifikation, es sei denn, man pflegt diese im fernen Land. So wie dies die Türken in Deutschland tun. Human Rights Watch weist darauf hin, wie China mittels „ideologischer Arbeit von Tür zu Tür“ und übergriffigen Hausbesuchen eine Zustimmung der Umzusiedelnden erzwingt.

Viel Widerstand können die jungen Tibeter-Generationen sowieso nicht mehr aufbringen. Zu sehr hat China seit drei Generationen alles ausgehöhlt, was Tibet ausmacht. Ein berüchtigter Schlächter aus Chinas Machtapparat heißt Chen Quanguon. Der Überwachungsfreak unterteilte die örtlichen Zentren Tibets in Raster, anhand derer aus rund 700 eigens eingerichteten ein- bzw. zweistöckigen Betonüberwachungsrevieren alle Bewohner systematisch überwacht werden. Wie im perfekten Stasi-Duktus baute Chen Quanguon ein System der nachbarschaftlichen und sogar innerfamiliären Denunziation auf.

George Orwells 1984 wird in Tibet Realität

Seit über zehn Jahren bildet China in politischen Schulungslagern tausende Parteikader aus, um sie in tibetischen Klöstern, Schulen und Privathäusern Regierungspropaganda betreiben zu lassen. Um Denken und Sprechen der Menschen im Sinne der Regierung zu steuern. Kelsang Gyaltsen, der ehemalige Sondergesandte des Dalai Lamas, gibt dem Deutschen Bundestag vor fünf Jahren zu Protokoll, die Grundhaltung der Tibeter wolle man „korrigieren“ und sie „patriotisch erziehen“.

Längst erreichen die Methoden des chinesischen Apparates orwellsche Maßstäbe, die der Autor George Orwell in seinem Roman 1984 beschrieb. Bei der Gehirnwäsche greift man auf Symbole zurück, die auch bei der Fußball-Europameisterschaft Euro 2024 eine starke Rolle spielen. Die Menschen sollen die Nationalhymne singen.

Ähnlich hatte Franz Beckenbauer und viele andere Bundestrainer nach ihm die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft indoktriniert, sie mögen dringendst die deutsche Hymne mitsingen, wenn sie schon einmal für die Nation antreten. Symbole und Rituale.

Da fragt man sich, ob China eine begründete Angst vor einer Abspaltung Tibets haben muss oder das Leben an sich von sich aus abspaltet. So wie sich der türkisch-deutsche Fußballer Mesut Özil gefragt haben muss, warum zum Teufel er noch für die deutsche Nationalmannschaft spielen sollte, wo er sich doch der türkischen Sache so verbunden fühlt.

Fürwahr scheint Tibet die Hilfe einiger Schutzgottheiten gebrauchen zu können. Vielleicht ist es doch bald so, dass alles Tibetische nur noch aus Büchern bekannt sein wird. So wie das Lateinische der Römer. Obwohl sie netterweise in Indien im Exil leben dürfen, haben es die Tibeter mit ihrer Kultur auch dort nicht ganz einfach. Auf dem Weg durch den Himalaya treffe ich auf eine Gruppe tibetischer Protestler, die mir sagen, sie würden dafür demonstrieren, in Nordindien ihre Sprache sprechen zu dürfen. Die indischen Behörden sähen das nicht so gerne.

Exil-Tibeter bei einer Rast auf ihrem Protestzug über eine Himalayastraße. Foto: Rainer Winters

In Jean-Jacques Annauds Kinofilm Sieben Jahre in Tibet (Brad Pitt spielt Heinrich Harrer) kommt ein chinesischer Militärkommandant zum Dalai Lama und besteht darauf, entgegen tibetischer Gepflogenheiten auf Augenhöhe mit dem Dalai Lama zu sitzen. Als ich 1999 den Tempel des Dalai Lama besuche, schreitet der Dalai Lama aus seinem Tempel an mir und ein paar Leuten vorbei. Keine 30 Sekunden vorher werden wir von Sicherheitspersonal angewiesen, auf die Knie zu gehen. Ausnahmslos jeder geht zu Boden. Ritual trifft auf Moderne.

Mönche im Kloster des Dalai Lamas in Dharamsala. Foto: Rainer Winters

Die mittelalterlich anmutenden Riten tibetischer Kloster- und Religionskultur haben auf alle Fälle eine ungeheure Kraft. Kurz nach seiner Wiedereröffnung erlebe ich im Jahre 1992 im mongolischen Ganden-Kloster von Ulan-Bataar eine fremdartige Spiritualität, die ich auf diese Weise nicht einmal in Dharamsala vorfand. Derzeit entscheidet sich, ob diese Kultur weiter bestehen wird oder ob wir von ihr nur noch im kulturhistorischen Sinne sprechen werden. Also dass die Kultur nur noch der Geschichte angehört.

Fakt ist: Kultur braucht einen Ort, an dem sie gepflegt werden kann. Eine Sinisierung Tibets, also chinesische Färbung tibetischer Kultur, ist wie das Venetian Resort Hotel in Las Vegas – mit all seinen falschen Wasserwegen und Gondeln – ein gruseliger Fake. DAS dort ist nicht Venedig. Ebenso ist das, was China aus Tibet gemacht hat, kaum mehr Tibet.

Gleichzeitig muss die Sache Tibets mit der Zeit gehen. Oder vielleicht nicht? Wenn es hunderte Jahre einfach das sein durfte, was es war?

Tibet als Republik

Der Dalai Lama jedenfalls schlägt neuerdings versöhnliche Töne an, es genüge, innerhalb Chinas eine autonome Republik zu haben. Es sind weise Töne, freigiebige Töne. Der unbezwingbare Feind bietet China etwas an.

Ein unabhängiger Staat Tibet würde demokratischer werden, dafür würden wohl die USA sorgen wollen. Wobei klar wäre, dass Tibet auf die Hilfe der USA verzichten sollte, denn das würde China umso mehr verhärten. Die Parallelen zum Ukraine/Russland-Konflikt sind augenmerklich.

Doch wäre auch die Demokratie kein Allheilmittel für die Lage in diesem Teil Zentralasiens. Wie Israel durch gezielte Ansiedlungspolitik den Willen der demokratisch mehrheitlichen Palästinenser unterminiert, so dürfte irgendwann auch die Ansiedelung massenhafter Nordost-Chinesen nach Tibet die für China erwünschten Wahlergebnisse bringen. Mit den Massenansiedlungen und Umsiedelungen sorgt China in seinem Sinne an mehreren Fronten vor.

Demokratie hin oder her. Ein noch stärkeres Konstrukt als die Demokratie ist die Nation. Gegenüber der Nation ist die Demokratie sekundär. Auch hierzu hat der Dalai Lama eine Meinung. In Zukunft wird es wohl keine Staatsgrenzen mehr geben. Also würde auch ein unabhängiger Staat Tibet irgendwann seine Grenzen verlieren. Warum also so sehr für harte Grenzen kämpfen? Die Parallelen zum Ukraine/Russland-Konflikt sind auch hier offensichtlich. Tibet ist überall.

Warum nur betreibt die Exilregierung von Tibet eine solch starke Lobbyarbeit in den USA? Wahrscheinlich wegen dem Faktor Zeit, also der Ungeduld. Weil es schon sehr bald nichts Tibetisches mehr geben könnte. Wobei dann Tibet zwar nicht gestorben wäre, sondern nur noch – wie das Latein der Juristen – als Werkzeug für den menschlichen Geist genutzt würde.

Om mani padme hum und die USA als Schutzgott

Also daher nun die USA als Schutzgott konsultieren? Obwohl man weiß, dass dieser Dämon immer zu Waffengewalt greift? Sich mit dem Bösen gegen das Böse verbünden, um am Ende Blut an den Händen zu haben, der Sache Tibets wegen? Und wenn man dann die Sache des unabhängigen Staates Tibet gewonnen hätte, dann wäre man ein Staat so wie alle anderen. Wie das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, die nur deshalb eine Nation sind, weil sie immer wieder für ihre Sache getötet haben und jeweils gewannen.

Wie bei der deutschen Wiedervereinigung kann ein friedliches Tibet nur aus einer Mischung von Diplomatie und historischem Glück entstehen. Ein einseitiges Gesetz der USA namens Resolve Tibet Act würde nur neue Gewalt schaffen. Mit der Zeit werden alle Ländergrenzen verschwinden, selbst wenn dies noch einhundert Jahre braucht. Betrachtet man die Sache Tibets aus dem Blickwinkel einer mehr als tausendjährigen Geschichte, hätten die Tibeter Zeit.

Man müsste nur China dazu bringen, endlich die Tibeter in Ruhe zu lassen. Um dann sagen zu können: Tibet ist nicht gestorben, weil die Beteiligten ihren menschlichen Geist dafür genutzt haben, Geduld und Milde aufzubringen, China einen Teil von sich herzugeben, China entgegenzukommen. Bei den diplomatischen Bemühungen sittlich zu handeln und im Positiven weiter an der Sache zu arbeiten. Und um dann ein universelles Miteinandergefühl in allen Beteiligten zu spüren.

Hoffnung versprüht das mittlerweile in Dharamsala ansässige Staatsorakel von Tibet. Seine Heiligkeit sei der 14. Dalai Lama, dann werde es einen 15., 16. und 17. geben. In anderen Ländern würden die Führer wechseln, und dann sei die Geschichte vorbei. Aber in Tibet funktioniere das anders.

Lesen Sie hier Teil 1 des Essays.

So geht territorialer Schutz gegen chinesische Landansprüche: Indien lässt Staatsflaggen in leeren Bergwüstentälern wehen und stellt in kleinen Weilern Ortsschilder auf. Diesbezüglich mag sich Indien nicht auf Schutzgötter verlassen. Foto: Rainer Winters