Lhasa, Himachal Pradesh, New York | analogo.de – Anlässlich des 89. Geburtstags des Dalai Lamas am vorgestrigen Samstag beleuchtet analogo.de die geopolitische Situation des Hochlands von Tibet. Vorneweg: Dem Staatsoberhaupt Tibets geht es gut, Der Dalai Lama weilt derzeit in New York, wo er sich einer Knieoperation unterzogen hat und sich nun auskuriert. Im Bezug Tibet werden die nächsten 12 Monate spannend, denn nicht nur wird der Dalai Lama im nächsten Jahr 90, er hat auch angekündigt, dann seinen Nachfolger auszusuchen. Ich habe den Sitz der tibetanischen Exilregierung in Nordindien vor Jahren besucht und den indischen Teil Tibets an der Grenze zu den chinesischen Grenzstellungen erkundet. Ein Essay in zwei Teilen von analogo.de mit einzigartigen und bislang unveröffentlichten Bildern aus einem unbekannten Teil Tibets.
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Tibet liegt den Menschen am Herzen. In einer ansonsten vollen technisierten Welt ist das tibetanische Hochplateau eine der wenigen traumhaft meditativen Gegenden auf dieser Erde. In dieser Landschaft leben fast ausschließlich güter-arme Menschen, denen die Heilsversprechungen einer kapitalistischen Welt nur wenig Reiz bedeuten.
Ohne Zugang zum Meer, umrahmt von hohen Gebirgen und undurchquerbaren Wüsten stand diese Gegend selten im umkämpften Mittelpunkt der Weltmächte. Aufgrund der Abgelegenheit konnten sich in Tibet über die Jahre charakterreiche Kulturen entwickelt. Doch die Entfernungen zwischen den Orten in Tibet sind groß. Der Kulturraum umfasst rund 2,5 Millionen Quadratkilometer, mithin einer summierten Fläche der Länder Spanien, Frankreich, Ukraine und Türkei.
Der Kulturraum dieser einzigartigen Weltgegend ist auch nicht von Industrieanlagen und Kommerz geprägt, etwa so wie in Baden-Württemberg. In Tibet machen oft Klöster und ein paar wenige Häuser die Siedlung. Hat man es im winterlichen Tibet geschafft, eine längere Strecke zurückzulegen, findet der Reisende Unterschlupf im Umfeld zutiefst spiritueller Menschen. Ähnlich der Karawansereien im wüstenhaften Orient sind hier Alltag und Religion, also die Hinwendung zum Inneren, eng miteinander verknüpft.
In diese heile Welt des Shangri-La stießen immer mal wieder Kaiser und Könige ferner Länder, die hier natürlich nicht wirklich was zu suchen hatten. Einmal kamen sie aus Russland, dann aus dem fernen Britannien und mehrfach aus der Nachbarschaft aus China.
Als nach dem 2. Weltkrieg chinesische Truppen des Terroristen Mao Zedong Tibet knechteten, floh das Oberhaupt der Tibeter nach Indien. Das Staatsorakel Tibets im Kloster von Nechung hatte diesen Schritt empfohlen, und der anti-kolonialistische Staatschef Indiens, Jawaharlal Nehru, hatte dem Dalai Lama prompt Unterschlupf gewährt. Indien hatte da erst vor kurzem die Knebel der britischen Besatzungsmacht abstreifen können.
In den folgenden Jahren flohen tausende Tibeter vor dem Psychoterror Chinas, vor Folter, Denunzierung, Inhaftierung, Verletzung, Verschleppung und Mord. Viele zogen in den nordindischen Teil Tibets und in angrenzende Himalaya-Gegenden von Indien. Der Ort der Exilregierung Tibets, Dharamsala in Himachal Pradesh, wurde zum symbolischen zweiten Lhasa. Von hier werden auch noch heute viele Stricke gedreht und der Staat Indien fungiert immer noch als einer der großen Beschützer der tibetischen Sache.
Einer der Gründe dafür ist, dass Tibet als Friedliches und mit seinen eigenen Dingen Beschäftigtes für Indien auch ein Puffer gegen das stark imperialistische China darstellt. Rund um sein Kernland eignet sich China, das selbsterklärte Reich der Mitte, Zhong Guo, seit einhundert Jahren verstärkt Land, Boden und Wasserraum an. Im Westen der Volksrepublik China gelang es anhand von Absprachen und „Deals“, den Grenzzaun Tadschikistans in Richtung Westen zu verlegen.
Im Südchinesischen Meer schneidet sich China Scheibe für Scheibe aus dem Meeresanspruch der Länder Philippinen, Taiwan und Vietnam. Das „mittlere Land zwischen Tibet und Indien“, Spiti habe ich bereist. Genau hier eröffnet Indien Mitte der 90er Jahre den erst zweiten Himalayapass ins Territorium Chinas, den Shipki La. Selbst heute, 35 Jahre später, gibt es nur eine einzige weitere geöffnete Himalaya-Passstraße zwischen Indien und dem offiziellen China. Ein Zeichen für die Vorsicht Indiens.
Der über viertausend Meter hohe Grenzübergang Shipki La ist nur für lokale Anwohner passierbar. Selbst Inder bekommen ein Problem, sollten sie von hier nach Lhasa reisen wollen. Für alle Ausländer und vor allem für Chinesen ist auch die Region namens Spiti bis heute nur mit einer speziellen Konzession bereisbar. Erst Anfang der 1990er Jahre erlaubt Indien den ersten Ausländern überhaupt die Reise in dieses Gebiet. Wenig später bin ich vor Ort.
Die Straßen in diesem Hochgebirge sind bis heute holprig und schlecht. Die Gebirgsstöcke so gewaltig, dass man sie nicht – wie in der Schweiz – für den Verkehr sicher gestalten kann. Bergstürze sind keine Ausnahme, einer geschieht nur wenige Stunden, bevor wir mit unserem Jeep passieren. Im Flusstal des Satluj-Flusses liegen just abgestürzte Autos und Lastwagen.
Die Tibeter in diesem indischen Teil Tibets sind froh, hier ihren Riten nachkommen zu können. Ähnlich einem rituellen Volksfest in Europa werden in dieser Gegend noch heute Volksfeste zu Ehren der Dorfgottheiten gefeiert. Auf einer Wanderung in der Grenzregion treffe ich auf eine kleine Prozession, die ihre Dorfgottheit ins nächste Dorf trägt.
Entlang der Wege hier oben stehen Mauern aus Gebetssteinen, viele graviert mit dem Mani-Mantra des Avalokiteshvara, Schutzpatron von Tibet und Erleuchtungswesens des universellen Mitgefühls. Manche werden das Mantra Om mani padme hum gehört haben, eine Singmeditation auf die sechs angestrebten Vollkommenheiten. Om steht für Freigiebigkeit, Ma für sittliches Handeln, ni für Geduld, pad für Fleiß, me für Meditation und das bekräftigende hum für die Weisheit.
Om mani padme hum als Mantra für den politischen Weg Tibets
Mit der Bedeutung dieses Mantras für Tibet versteht man auch die Videobotschaft des Dalai Lamas anlässlich seines 89. Geburtstages. Dem Dalai Lama ist als Symbol Tibets nur allzu bewusst, dass er zu sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. In einem wichtigen Demokratisierungsschritt in Richtung der neuen „Tibetischen Zentralverwaltung“ gab er sein Amt als Oberhaupt der von ihm 1959 gegründeten tibetischen Exilregierung bereits vor 13 Jahren an jüngere Politiker ab.
Macht, Ruhm und Ehre eines Politikers zu haben, ist ja für Viele ein ganz hohes Ziel. Im Jahr des Berliner Mauerfalls wurde der Dalai Lama mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kämpfte der Dalai Lama all die Jahre für ein freies Tibet, tut er dies heute und gegen Ende seiner Jahre wieder im geistig-seelischen ja religiösen Sinne.
Im Sinne des Om mani padme hum muss er nicht mehr so politisch sein, sondern er versucht das Ziel eines freien Tibets mit Freigiebigkeit, sittlichem Handeln, Geduld, Fleiß, Meditation und Weisheit zu erreichen. In seiner Videobotschaft sagt der Dalai Lama am Samstag auf Englisch: „Ich habe in Tibet mein Bestes gegeben, im Exil in Dharamsala habe ich gedient nach dem Besten meiner Fähigkeiten.“ Auch gerade weil es in der derzeitig so aufgeheizten Welt ein starkes Interesse an Tibet gibt, bittet er alle in der Welt, vor allem Tibeter in Tibet, gelassen zu bleiben und sich zu entspannen.
Diese Botschaft ist der beste Weg im Sinne des wahrhaft Buddhistischen. Gewaltfrei, weich wie Wasser und voller Geduld ohne zeitliche Vorgaben. Die westliche Welt handelt fast ausschließlich nach der Maxime, Dinge noch unter der Regentschaft einer Führungsperson abzuschließen. Im Privaten dominieren Bucket Lists, die man abgearbeitet haben will, bevor man stirbt. Der Klimawandel soll gestoppt werden, aber das will ich doch bitte noch erleben. Dass die Welt ihren Weg gehen wird, auch ohne das persönliche Zutun, ist allerdings eine gänzlich un-westliche Weltsicht.
Die „Thronfolge“ des Dalai Lamas steht an, und bevor das so starke Symbol für Tibet und im amerikanischen Sinne der Pfeiler gegen den Weltmachtkonkurrenten China abtritt, mischen sich die Amerikaner gewohnt unsensibel in fremde Dinge ein. US-Präsident Joe Biden könnte in den nächsten Monaten den vorbereiteten Resolve Tibet Act unterzeichnen, also ein US-amerikanisches Gesetz.
Gab es unter Präsident Reagan in den 1980er Jahren eine Entspannung im Dreieck Tibet/USA/China, wovon auch Tibet profitierte, beschlossen die USA im Jahr 2002 den Tibetan Policy Act (TPA). Hierin bescheinigten die USA, nicht die territoriale Herrschaft Chinas über Tibet in Frage zu stellen. Auch den Dalai Lama würde man allenfalls als spirituelles Oberhaupt und als Nobelpreisträger treffen. Mehr nicht.
Propaganda von innen und außen
Unter Präsident Donald Trump verabschiedeten die USA dann allerdings vor vier Jahren ein zweites Tibet-Gesetz. Mit dem Tibetan Policy & Support Act (TPSA) verschärften die USA den Ton, China hätte in der Frage des Nachfolgers für den Dalai Lama kein Mitspracherecht. Das sei die Sache der buddhistischen Tibeter.
Mit dem bevorstehenden Resolve Tibet Act (RTA) werden die USA die geografischen Grenzen von Tibet festlegen wollen, was China aufs Schärfste zurückweist. Mit dem RTA würde die Regierung zudem Millionen Dollars für anti-chinesische Propaganda freimachen, die es sich selber zig Millionen kosten lässt, Tibetern und Chinesen in und außerhalb Chinas zu vermitteln, dass Tibet schon immer chinesisch war.
Die USA wollen das Recht des unterdrückten Volkes der Tibeter stärken, ihre Geschichte nicht verschwinden lassen, ihre Kultur bewahren (na ob sie nicht auch wie in Sansibar deren hunderte Jahre alten handgeschnitzten Türen aus den alten Hausfronten herausschneiden und in die USA importieren?) und ihre Institutionen wiederaufbauen. Offiziell will man dem tibetischen Volkes sein Recht auf Religions- und Sprachfreiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung sichern.
Nur wären die USA nicht die USA, wenn sie all dies nicht für den eigenen Geldbeutel tun würden. Im Irak töteten sie über hunderttausende Menschen für ihren Durst nach Erdöl, „und um nebenbei Gutes zu tun“. In Deutschland töteten sie hunderttausende Menschen für ihren Geldbeutel, „und um nebenbei Gutes zu tun“. In der Ukraine entfachten die USA einen Krieg gegen Russland, um ihre eigenen Geschäftsinteressen (schon wieder Erdöl) zu sichern, „und um nebenbei Gutes zu tun“.
Natürlich versprechen sich die USA auch von Tibet eine Wiedergutmachung in Form von Uran, seltenen Erden und sonstigen Bodenschätzen. Dr. Namgyal Choedup, der North America Representative des Dalai Lama, hat enge Kontakte zu einer Politikerin, die stark dabei half, den Ukraine-Krieg gegen Russland zu entfachen. Nancy Pelosi besuchte mit einer Delegation vor wenigen Wochen Dharamsala.
Während sich der Dalai Lama längst ins Spirituelle zurückgezogen hat, will vor allem die tibetische Jugend die komplette Unabhängigkeit Tibets von China. Auch die Verwaltung Tibets in Dharamsala kommt weltlicher also macht-fokussierter daher.
Bhuchung Tsering, der Vizepräsident der International Campaign for Tibet (ICT) vereinte letztes Jahr die weltliche mit der spirituellem Ebene, als er sagte: Tibet wird nicht sterben, weil es für den menschlichen Geist keinen Tod gibt. Mit einem klaren Bezug zu den Besatzern ergänzte er: „Der Kommunismus wird keinen Erfolg haben, weil der Mensch nicht für immer versklavt sein wird.“ Wirtschaftspolitische Musik in den Ohren der anti-kommunistischen Amerikaner.
Lesen Sie hier Teil 2 des Essays.