Kiel | analogo.de – Am heutigen Tage wäre der große Musiker Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden. Er starb vor 28 Jahren als Folge des Überkonsumes leichter Drogen. Bernstein hauchte dem Schleswig-Holstein Musik Festival über viele Jahre Pathos ein, einen leidenschaftlichen Mix aus Liebe, Hoffnung, Schmerz und Leid. Morgen endet das diesjährige Schleswig-Holstein Musik Festival und seine Initiatoren können befriedigt auf eine großartige Spielzeit zurückblicken.
Eines der herausragenden Konzerte dieses Jahres war das leidenschaftliche Konzert am 13. Juli 2018 im Kieler Schloss. analogo.de war zugegen und berichtet vom Ereignis.
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Auf dem Programm standen Gustav Mahlers 1. Sinfonie, Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert und das eher unbekannte Lamento von Ahania des jungen Komponisten Samy Moussa. Los gings mit Moussa, dessen Musik wahres Leid im Saal erzeugte. Das Lamento für Frauenstimme und Orchester war so reich an Dissonanzen, dass die Sehnsucht nach den Harmonien Mahlers und Schumanns allgemein großen Raum einnahm. Die kanadische Sängerin Mireille Lebel mit ihrem warmen Mezzosopran nahm die Herausforderung an, die geradezu modisch anmutende Verzweiflung der heutigen Jugend in Töne zu gießen. Nicht umsonst sind die Psychosomatischen Kliniken voll mit jungen Leuten. Zurück blieb der Eindruck, dass Samy Moussa diesen Zeitgeist in Musik umsetzen wollte.
Zur Mitte des Stückes verschärfte sich das Leid, als sich die Dissonanzen wahrlich durch den Raum schleppten. Ja da war Leidenschaft. Das Selbstzerstörerische („self-destroying“) klang eindrucksvoll nach, alsbald messerscharf die Gebeine von Tieren klirrten. Einzig schön das Wort, welches dem Leid ein Ende bereitete: Das Licht. Im gut besuchten Konzertsaal verhauchten die Töne des lichtenen Xylophons mit einem dit-di-ditdit.
Midori at its best
Es folgte Gotō Midori, die beste Instrumentalistin von Musical America des Jahres 2002 und eine von Leid geprüfte Violinistin, die in ihrer Karriere dank des Drucks einer ruhmversessenen Mutter zu pathetischer Größe wuchs. Nach einem Leben voller Selbstzweifel und Angst studierte Midori auch aus Selbstheilungszwecken Psychologie. Die Leidenschaft war auch ihr Thema, wenn auch mit Robert Schumanns Violinwerk von Harmonie getragen.
Schon der Auftakt war ein Erlebnis. Auf dem Weg zum idealen Start zwischen Solistin und Dirigent wippte Dirigent Christoph Eschenbach mit dem Taktstock, als Midori den von Eschenbach geformten Taktschlag mit ihrem Bogen antizipierte. Es war zu spüren, dass Musik ab jetzt geatmet werden konnte.
Das Orchester zeigte sich sparsam, gab Midori gerade so viel Begleitung wie nötig. Kunstfertig das Hintergrundsummen der Kontrabasse im verhauchenden pianississimo. Das muss man erst einmal hinbekommen. Midori, die kleine Frau mit leicht gebückter Körperhaltung begeisterte das Publikum. Stehende Ovationen waren der Dank an diese großartige Musikerin.
Pause. Inspiriert vom gerade Gesehenen, tanzte draußen ein kleines Mädchen und schmiss die Arme in die Luft. Midori hatte sogar die Kleinsten inspiriert.
Mahler, Bernstein, Eschenbach & das Leben
Nach der Pause folgte eines der Lieblingsstücke aller Konzertsäle, Gustav Mahlers erste Sinfonie in D-Dur. Zum wiederholten Mal führte hier Christoph Eschenbach, der Nachfolger von Leonard Bernstein in Schleswig-Holstein, Mahlers Erste auf. Es war der Jude Bernstein, der durch seine Interpretationen dem Juden Gustav Mahler zum Durchbruch verholfen hatte.
Mit der abendlichen Musik zog der Morgen in den Konzertsaal ein. Der berühmte Kuckuck Mahlers begrüßte den Tag und erweckte die Natur auf dem Land. Guten Morgen, Welt, wie ich doch die Welt so liebe. Auch Bernstein liebte die Welt, im Gegensatz zu Mahler auch die Laster. Frauen, Whiskey, Zigaretten, Bernstein war ein Lebemann. Trotz Zigaretten verweilte Bernstein aber 22 Jahre länger auf der Erde als Gustav Mahler.
Wenn Mahler einen Makel hatte, dann dass er die bekannte Musik anderer Komponisten in seine Werke integrierte. Bruder Jakob ist so ein Stück, das geradezu leitmotivisch erklang, wenn auch als zum Trauermarsch umerkorener Bruder Martin. Nun erklangen die vielen Facetten des Titans: Hier die Harfe als Taktgeber, dort drei Querflöten. Das Publikum hörte eine Mischung aus Csárdás und Wiegenlied, Mahler als verbindender Ausdruck europäischer Kulturen. Dann wieder die Gesten Eschenbachs. Wie Bernstein in der Lage war mit seinen Augenbrauen zu dirigieren, setzte Eschenbach an diesem Abend den Einsatz der Querflöten mit einem leichten Fingerzippen in Szene.
Im dritten Satz dann für Mahler typische Übergänge von leisesten Passagen in forte fortissimi. Das Kieler Schloss bebte. Hier und da bebten bestimmt auch die Zuhörer, sofern sie nicht von ihren Sitzen gefressen wurden. Wie der Vertreter des Schleswig-Holstein Musik Festivals eingangs bemerkte, seien die Räumlichkeiten „sehr sensibel oder gar nicht restauriert“ worden.
Wen sollte das zum Ende des Stückes kümmern, angesichts des infernalischen Spektakels eines dramatischen Schlusssatzes, in dem rund vierzig Streicher gefühlte zehnmal pro Sekunde den Bogen schmissen. Wie so oft bei Mahler, folgte dem Besinnlichen das Drama und wieder dem Drama das Besinnliche. Auch an diesem Abend boten Eschenbach und sein junges internationales Orchester einen gefühlszerberstenden James-Bond-Ausspann, in dem Bond schließlich mit Frau und Boot im offenen Meer davongleitet.
Was auch immer Eschenbach an diesem Abend mit Bernstein und Mahler verband, es muß eine tiefe Verehrung für die beiden Künstler gewesen sein. Er legte seine ganze Kraft in die Verschmelzung des jungen Orchesters mit dieser wunderbaren Musik. Schwankend verließ er am Ende das Dirigentenpult um gleich darauf von den begeisterten Hörern durch Klatschen und Bravo-Rufe zurückgeholt zu werden.
Interessantes zu diesem Konzert
Gustav Mahler bediente sich für seine erste Sinfonie aus seinen Wunderhorn-Liedern. Vorbild der Wunderhorn-Lieder war die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn der Heidelberger Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano. Mahler vertonte Teile der Sammlung. Ein Liederzyklus dieser Liedersammlung waren die Lieder eines fahrenden Gesellen. Es waren die Lieder eines Jungen, der über die Wanderschaft sein Unglück über eine kaum erwiderte Liebschaft bewältigen wollte.
Ähnlich wie der Junge befand sich vor wenigen Monaten ein Mann in der Nähe von Kiel auf Wanderschaft, um sein Unglück über die kaum erwiderte Liebschaft um den neuen Nationalstaat Katalonien zu bewältigen. Er wurde in Schleswig-Holstein festgenommen. Carles Puigdemont, sein Name. Mittlerweile ist der vor kaum einem Jahr designierte Präsident Kataloniens wieder auf freiem Fuß. Spanien hatte den demokratischen Prozess Kataloniens mit einem Haftbefehl gegen den neuen Präsidenten torpediert. Wohlfährig führte Schleswig-Holsteins Innenminister Joachim Grote (CDU) den Haftbefehl aus und geht damit als der Mann in die Geschichte ein, der den katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont in der Nähe von Kiel festnehmen ließ. Was Katalonien schließlich mit den Schriftstellern Achim von Arnim und Clemens Brentano verbindet, berichteten wir hier. So erfahren die Wunderhorn-Lieder und die aufgeführte Sinfonie eine aktuelle Prägung.
Auch Leonard Bernstein, Gustav Mahler, Robert Schumann und Gotō Midori wanderten bzw. wandern noch heute zwischen den Welten. Wichtige Stationen für Mahler, Schumann und Bernstein war immer schon die Stadt Wien. Für Bernstein, Midori und im Geringeren für Mahler hatte die Stadt New York eine große Bedeutung. Das Jüdische verbindet Bernstein, Mahler und selbst Schumann, der von den Nazis als Antisemit stilisiert wurde.