Bukolisches SHMF-Sommerkonzert auf Gut Wulfshagen mit Tenor Rolando Villazón und Harfenist Xavier de Maistre

Gut Wulfshagen | analogo.de – Die freudige und erwartungsvolle Stimmung ist greifbar. Als Rolando Villazón die Bühne betritt, ist er gleich beim Publikum. Irgendwie „bucolic“ sei es hier, sagt er auf deutsch. Ob irgendeiner der vielen hundert Zuhörer wusste, was der mexikanisch-französische Startenor mit bucolic meinte? Ein Schulterzucken rief es jedenfalls beim Hofherrn hervor, Moritz Graf zu Reventlow. Die Kombination aus schwül-drückendem Sommerwetter und rustikalem Naturschauplatz dürfte bei Villazón das Stimmungsbild hervorgerufen haben. Zusammen mit dem französischen Harfenisten Xavier de Maistre präsentierte Villazón ein einstündiges Programm voller Melancholie und Schwermut. Mit dem Fokus auf mexikanischen, kubanischen, brasilianischen und argentinischen Liedern war es eine sehr persönliche Angelegenheit des Universalgenies Villazón, der auch Mexikos Kulturbotschafter ist. analogo.de war beim Serenata-Latina-Konzert zugegen und berichtet vom Ereignis.

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Der Reiseführer 1.000 places to see before you die hebt das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) als Sommermusikfestival nicht nur hervor, weil es das größte in Deutschland sei, sondern weil ansonsten verschlossene Herrenhäuser, Gutshöfe und Scheunen der „Provinz Schleswig-Holstein“ für Liebhaber klassischer Musik zugänglich werden. Seit acht Jahren öffnet sich das Gut für Konzerte des SHMF, nachdem das Herrenhaus jahrelang bedeutende Musiker zu Gast hatte. Im Interview sagt Gutsherr Moritz Graf zu Reventlow zu analogo.de, „Lenny“ Leonhard Bernstein habe hier schon vor 30 Jahren gewohnt. Die Eltern seien mit dem SHMF-Gründer Justus Frantz befreundet. Christoph Eschenbach habe ebenfalls hier gewohnt. Ursprünglich seien die Konzerte dieses Jahr in der Scheune geplant gewesen, doch wegen Corona habe man es jetzt auf den offenen Hof verlegt.

Auf der Halbinsel des Dänischen Wohldes gelegen, also des Dänischen Waldes, ist das Gut Wulfshagen bei Kiel in der Tat ein bukolisches Landgut. Mit bucolic meinen Latinophile ein ländliches Umfeld, in der spanischen Literatur wird das Wort für musikalische Streitgespräche mit (Kuh-) Hirten benutzt. Der Veranstaltungsort ist von Feldern, Wiesen und Wäldern umgeben. Auf dem Gutsgelände werden bis heute die Hauptfrüchte Schleswig-Holsteins angebaut, Weizen, Gerste, Raps und Mais.

Gutshof Gut Wulfshagen. Bildrechte: SHMF

Reihe sechs, Platz sieben und acht. Die Klappstühle in dem weitläufigen Gutsarenal sind paarweise aufgestellt. Keine Maskenpflicht, viel Abstand nach allen Seiten. Der Großteil des Publikums gehört der zweiten Lebenshälfte an, der eher vermögende Teil. Eine elegante Harfe in Schwarz und nussigem Braun steht auf einer Freiluftbühne. Ein echter Hingucker.

Zwei attraktive Männer werden vom Publikum begeistert empfangen, zu Reventlow kündigt sie als Weltstars an, nennt bei der Begrüßung keine Namen. Xavier de Maistres Hände entlocken seiner Harfe eine perlende, fröhliche Leichtigkeit. Rolando Villazón stimmt ein mit der kraftvollen Farbe seines Gesangs, die Lieder voller Emotion. Wie es scheint, braucht das Publikum eine Weile, um sich auf diese tiefe warme Melancholie einzulassen.

Locker leicht geht es los mit Harfenfiguren, die an Debussys Claire de Lune erinnern lassen: Carlos Guastavinos Violetas. Das Lied beginnt mit dem Wunder lebendiger Veilchen, und lässt schon bald erahnen, dass das Leben mit all seinen Facetten bis hin zum Tod thematisiert wird. Beim zweiten Lied des Argentiniers Se equivocó la paloma zeigt sich Villazóns ganze stimmliche Tiefe. Sie hat einen Fehler gemacht, se equivocaba. Equi_vo_ca_ba, das Irren zieht Villazón in die Länge, so dass ganz viel Zeit bleibt, um nachzuahnen, warum sie irrt, die Taube. Im vielleicht bekanntesten Stück des Argentiniers Guastavino, La rosa y el sauce singt Villazón einen ganzen Tonkreis auf das endende „Ah“ der Weide, die den Verlust ihrer Rose betrauerte. Weichhölzrige Weidenbäume sind nah am Wasser gebaut. Kann es Zufall sein, dass Guastavino diese Baumart wählte? Wer vom Publikum nah am Wasser gebaut war, wurde schon hier zu Tränen gerührt.

Pause für den Sänger, die Bühne gehört dem Harfenisten. Die sommerliche Vogelwelt liefert das harmonische Grundrauschen, als Xavier des Maistre einen spanischen Tanz anstimmt. De Maistre so, wie man ihn von anderen Musikfestivals in Salzburg und Budapest kennt, virtuos, ja leicht aufgeregt. Pause. De Maistre holt seinen Partner zurück auf die Bühne. Eine Geste voller Magnetik, accompaniert vom naturklanglichen Zwitschern der Blaumeisen und Amseln.

Xavier de Maistre. Bildrechte: Felix Broede

Locker und unverkrampt erklärt der Unterhalter Villazón, er sei in Mexiko geboren, daher sei Mexiko seine kleine Heimat. Seit 20 Jahren wohnt Villazón in Frankreich. Seine große Heimat sei der Kontinent, die Kultur, die Sprache. Als er die Idee einer deutschen Sprachwendung falsch ausdrückt, korrigiert er sie mit Hingabe und Charme. Villazón ist präsent, sein Begleiter eher zurückhaltend still.

Beim nächsten Stück sollen wir uns doch bitte mit Beifall zurückhalten, es würde den Liederzyklus zerreißen, so der für seine überkritische Haltung bekannte Villazón. „Hermanos, hermanas, Brüder und Schwester, es geht weiter“, hier wieder der Unterhalter Villazón.

Alberto Ginasteras Canción al árbol del olvido, das Lied an den Baum des Vergessens und weitere vier populäre argentinische Lieder zeigen die ganze Tiefe argentinischer Kultur, die Seelenwelt zu besingen. Wer unter dem Baum des Vergessens schläft, wird von seinen quälenden Tagträumen befreit. „Sobald ich mich hinlegte, war es gut“. Das endende é des se acosté zieht Villazón lang und immer länger, bis er mit einem melancholischen Lächeln in die reale Welt zurückfindet.

Was wird Villazón gedacht haben, als er nach einem solchen Lied die Augen öffnet? Villazón sagt: Bucolico sei es hier, und mit dem Publikum, halleluja. Jetzt ist auch Villazóns Stimme ganz da. Zwischen dem Lied Zamba und Triste zwitschert der Vogelchor, bucolico. Das Intro von Triste stimmt de Maistre mit gezupften Apostrophen ein, erinnernd an Synthierockpassagen Alan Parsons. Ohne Hoffnung zu lieben, im beginnenden Ah liegt die ganze Traurigkeit der Einsicht.

Der argentinische Liederzyklus endet mit einem flinkem Chacarera, das daherschleppende Arroró vergessenmachend. Stürmischer Beifall nach stürmisch endender Strophe – mit dem Wortfetzen der argentinischen Stadt Tucumán.

Zeit zum Durchatmen nach schwerer melancholischer Kost. Mit einem Bailecito wirbelt Xavier de Maistre filigran über drei oder vier Oktaven. Jetzt ist auch die Harfe tonseitig nicht mehr übersteuert. Das Tänzchen im 6/8-Takt ist unterhaltsam. Wieder holt de Maistre seinen Kompagnon auf die Bühne.

Der Kulturbotschafter Rolando Villazón

Nun ein Stück, welches von der Deutschen Grammophon eingespielt wurde. Das Deseo des Kubaners Eduardo Sánchez de Fuentes ist ein nur kurzes Interludium. Das Publikum dankt mit einem Bravo. Nun der Wolf Biermann Kubas, Silvio Rodríguez. Villazón hörte den liedermachenden Politiker im Alter von elf Jahren. Im Lied En estos días ist Villazón ganz hermano, lateinamerikanischer Bruder unter Brüdern und Schwestern, Mexikaner zwar, aber auch Kubaner. Man hört es an Worten wie terribles, wie er das „r“  der Lateinamerikaner so typisch rollt. Oder im „ch“ des Wortes ruge, dem Brüllen der bestialischen Menschen.

Rolando Villazón. „Hermanos, hermanas … es geht weiter“. Bildrechte: Julien Benhamoudg

Rodríguez und Villazón verbindet die Politik, die (R)evolution, das Idealistische. Lateinamerikanisches Herzblut trifft auf unterkühlte Nordlichter. Wie ein theatralischer Opernsänger streckt der Kulturbotschafter Mexikos beide Arme in Richtung seines Publikums, als wolle er sagen: Hört meine Botschaft. Tatsächlich vermissen viele Zuhörer einen wichtigen Teil der Botschaft. Nach dem Konzert erfährt analogo.de, wie manche im Nachhinein bedauerten, keine Notentexte zum Gesang an der Hand zu haben. Sie hatten wohl nicht realisiert, dass der Veranstalter ein wunderbar aufbereitetes Programmheftchen mit übersetzten Texten verkaufte.

Weiter gings mit einem Lied von der 1914 geborenen Yvette Souviron. Endlich stand auch mal de Maistre im Vordergrund. Diskret filigrane Läufe von ganz unten nach ganz oben, verzückend schönes Harfenspiel. Im trauernden Herzen des Brasilianers Alberto Nepomucenos Coracao triste wird das Thema der Trauer weiter vertieft, bis Villazón das traurig-melancholische Lied im „vem ó sol“ operndramatisch auslaufen lässt, komm‘ oh Sonne.

Zeit für Heiteres. De Maistre gibt das bekannte Sambastück Tico Tico no Fubá zum Besten, ein Stück, welches Orchester generell gerne als Zugabe spielen. Das Gute daran sind Rhythmus und Tempo, die zu jubilierenden Beifall animieren. Was normalerweise Konzertabende enden lässt, half heute, die unter Schwüle leidende Schwere des Nachmittags zu zerstäuben.

Der Wechsel zu Ariel Ramírez‘ Alfonsina y el mar ist ein frappierender Wechsel der Tonart. Zu Schleswig-Holstein passend das hier mehrfach kraftvoll von Villazón wiederholte „Una voz antigua de viento y de sal, te requiebra al alma y te está llevando“, eine uralte Stimme aus Wind und Salz, die Frieden in deine Seele bringt und sie fortträgt. In un poco más erkennt man in Villazón wieder den Lateinamerikaner.

La Llorona

Nach diesen eher unbekannten Stücken stand nun mit der Wehklagenden La Llorona die verkürzte Form eines sehr bekannten mexikanischen Volksliedes auf dem Programm. Für die der Totenkultur so nahen Mexikaner ist das Erscheinen vom Geist Lloronas ein Zeichen für den bevorstehenden Tod. Llorona, so der Volksmund, hat ihre Kinder im Fluss ertränkt und beweint das Schicksal.

Im langsamen 3/4 Takt singt Villazón ernst und dramatisch zugleich, wie der Erzähler Llorona mit der Jungfrau verwechselte. Jeder der nichts von Liebe weiß, weiß nichts von Schmerz, singt Villazón, und es hat den Anschein, als ob sich der Mann, der einmal Priester werden wollte, mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Wenn sich die Blumen im Wind bewegen, Llorona, sieht es aus, also ob sie weinen: Villazón singt den Wind viento wie den Wind, Llo_rona, und immer verzweifelter Llo__ro_na. Das Publikum dankt mit dem stärksten Applaus. Villazón erklärt die Bedeutung des Stückes, welches während der mexikanischen Revolution 1910 entstand.

Wo Leid empfunden wird, ist auch Liebe nicht weit. Die Musiker wollen es mit Rubén Fuentes‘ Mädchen im Bikini La Bikina auflockern, dessen Text dann wider Erwarten aber doch nur von der Trauer handelt. Der starke Beifall aber zeigt, wie das Publikum die Trauer mitnimmt. Das traurige Lied, das ich singe, Zigeunermädchen, dichtet der Kolumbianer Luis Antonio Calvo, und Villazón endet lächelnd mit der Beteuerung, dass sie ruhig und friedlich schlafen, wenn sie nur träumen.

Standing ovations nach einem bukolischen Sommerkonzert. Ob denn hier Südamerikaner im Publikum seien, fragt Villazón. Nicht team-building, sondern lateinamerika-building. Ein Chilene meldet sich. Oh, un chileno. Heute abend spiele Peru um Platz 3 der Copa América, so Villazón, ganz Kulturbotschafter. Das Spiel verlor Peru übrigens am Abend mit 2:3 gegen Kolumbien.

Als Zugabe gibt’s das Alma Llanera des Venezuelaners Pedro Gutierrez. Gesang, Träume, Seele, canto, sueno, alma, Villazón wackelt und tanzt. Die letzte Tonsequenz ist die einer großartigen Arie. Auch deswegen, so scheint es, sind die Leute gekommen.

Fazit

Der temperamentvolle Tenor Rolando Villazón ist ein Stück weit wie der Komponist Gioacchino Rossini, der einmal sagte, man gebe ihm eine Wäscheliste und er mache sie zu Musik. Ein Tausendsassa, der ebenso mit Mariachikapellen musiziert wie mit Xavier de Maistre traurige Lieder einstimmt. Nach weithin traurigen Coronamonaten dürfte das Konzert für Viele das erste in diesem Jahr gewesen sein, als Open Air ein Stück Lebensqualität und Sommerglück.

Die heutige Rundreise durch das melancholische Volksliedgut des lateinamerikanischen Kontinents ist mit der Kombination aus Harfe und Gesang gelungen. Harfe und Gesang harmonieren perfekt, ziehen in ihren Bann. Die Soloeinlagen des Harfenisten sind ein Traum und werden stürmisch beklatscht.

Der Liederzyklus zu Beginn hatte all das, was Emotionen ausmachen, Traurigkeit, Drama, Verzweiflung, Freude. Rolando Villazón ganz der hingebungsvolle Zauberer von Emotionen, der die Stimmung der Zuhörer mit fröhlicher, charmanter Plauderei im Gleichgewicht zu halten vermag. Er bringt sein Publikum zum Lachen, erweckt es zum Leben, selbst wenn die lateinamerikanischen Liedtexte zu Traurigkeit verleiten.

Die Vorstellung ließ erspüren, was Glück bedeutet. Um 19 Uhr fand eine weitere Vorstellung der beiden Künstler statt. Ein Kraftakt! Zu gerne wären manche noch einen Moment auf dem Hofgut geblieben, vielleicht das Bukolische nachspürend oder um sich bei den Veranstaltern und Künstlern zu bedanken. Doch der nächste Termin stand und die letzten Gäste wurden nur Minuten nach dem Konzert von einem unfreundlichen Herrn hinauskomplementiert: „Darf ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen?“ Es war so, als ob man unfreiwillig das Paradies verlässt. Auch das ist wohl ein Teil der traurigen Wirklichkeit. Für eine Stunde jedenfalls entführten Rolando Villazón und Xavier de Maistre die Zuhörer in zumeist unbekannte Traumwelten.

Xavier de Maistre und Rolando Villazón beim „bukolischen“ Sommerkonzert des SHMF am 09. Juli 2021 auf Gut Wulfshagen. Bildrechte: Sophia Hegewald
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