Rezepte gegen Staatsversagen

Mainz | analogo.de – Welche Ausprägung von Ordnung bietet der Staat derzeit seinen Bürgerinnen und Bürgern? Wie viel Chaos und verlorene Menschenwürde mutet er jeder einzelnen Person zu? In Köln wurde in der Silvesternacht 2015/2016 deutlich, dass der Staat die staatstragende Hoheit verloren hat. Die Süddeutsche Zeitung konstatiert, wie der Staat in Köln versagte, als er über fünfhundert gedemütigte und angegriffene Frauen nicht verteidigen konnte. In Deutschland wird es dunkel. Was können die Bürger und anderen am Staat Beteiligten tun, um den Staat zu retten? Der analogo.de LONG READ.

Lesedauer: 9 Minuten

In Stuttgart gab es letztes Jahr 1.239 angemeldete Demonstrationen, bei denen die Vorstellungen von Demokratie unter den diversen Teilnehmern stark voneinander abwichen. In Mainz fand am 05. Januar 2016 im Stadtteil Finthen eine Wahlkundgebung der AfD statt und auch hier gab es Anzeichen von Staatsversagen.

Doch von wem ist da eigentlich die Rede – dem Staat? In einer gedachten Staatspyramide der Politikwissenschaften basiert der Staat auf der breiten Masse der Bürgerinnen und Bürger. Sie tragen den Staat auf der untersten Ebene, verleihen ihm von unten her Festigkeit. Auf diesem Fundament ruhen die intermediären Akteure der Parteien, Interessengruppen, sozialen Bewegungen und der Medien. Erst auf dieser zweiten Pyramidenebene fußen diejenigen Organe, mit denen wir im Allgemeinen den Staat bezeichnen. Es sind die zentralen Entscheidungssysteme Exekutive, Legislative und Judikative. analogo.de betrachtet im Folgenden diese drei Ebenen des Staates und verdeutlicht, warum am 05. Januar in Finthen der Staat versagte. Dabei steht Finthen für Köln, Dresden, Hamburg oder Stuttgart.

Starten wir mit der Exekutive, also demjenigen Entscheidungssystem mit den üblicherweise größten Aufmerksamkeiten und Schuldzuweisungen bei Staatsversagen. Die Exekutive besteht aus Regierung, Innenministerium, Polizei, Geheimdienst, Staatsanwaltschaft und Stadtverwaltung. Relevant für den Fall Finthen sind vor allem die Polizei, die Stadtverwaltung und die Staatsanwaltschaft.

Im Bürgerhaus Finthen sollte die erste Wahlkampfveranstaltung der Partei Alternative für Deutschland (AfD) zur anstehenden Landtagswahl mit 300 Personen stattfinden. Zwei Gegendemonstrationen wurden bei der Stadtverwaltung angemeldet. Der erste Anmelder Arvid Irgens verantwortete die reaktionäre Demonstration „Gegenkundgebung: AfD-Wahlkampf zum Desaster machen“. Als zweiter Anmelder war der Antirassistische Arbeitskreis Mainz (ARAG) im Gespräch. Irgens hatte bereits am 29. Oktober 2015 in der Mainzer Oberstadt zu einer Gegendemonstration gegen die Pegida-Rednerin Tatjana Festerling aufgerufen.

Nachdem eine andere AfD-Kundgebung bereits im November 2015 von Gegendemonstranten teilweise blockiert wurde (wir berichteten), befragte analogo.de die Stadtverwaltung, ob Polizei und Stadtverwaltung laut Demonstrationsplanung wieder mit einer direkten Konfrontation der beiden politischen Interessengruppen planen. Pressesprecher Peterhanwahr gab zu verstehen, man gehe von keiner Gefährdung der Wahlkampfbesucher aus. Zudem wären Polizei und Stadtverwaltung durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gebunden, den Demonstrationsort der Gegendemonstranten nicht „drei“ Kilometer von der Wahlkampfveranstaltung entfernt zu legen.

Und dann kam Dienstag, der 05. Januar 2016. Die Stimmung unter den Gegendemonstranten war so aggressiv, dass sympathisierende bürgerliche Gegendemonstranten die Veranstaltung vorzeitig und angewidert verlassen hatten. Wer ist dieser Arvid Irgens, der die AfD-Besucher gegenüber der Internetzeitung Merkurist später als Nazis bezeichnete? Was leitete Irgens und seine brutalen Gegendemonstrant(inn)en, den Hauptzugang Rodeneckplatz zum Veranstaltungsort des Bürgerhauses zu blockieren, so dass die Wahlkampfbesucher nur durch den Hintereingang oder nach Beschimpfungen wie „Haut ab, Ihr Wichser!“ oder „Nazipack, verpisst Euch!“ am Vordereingang ins Gebäude kamen? War es die unbekümmerte Zusicherung der Regierungspartei SPD, die ja zur Gegendemonstration ermutigte?

Die von der SPD und den Grünen regierte Stadtverwaltung hatte mit der Polizei zusammen zuvor 20 bis 25m vor dem Bürgerhaus Finthen Sperrgitter aufgestellt. 20 Meter! Die Konfrontation war durch ein direktes Aufeinandertreffen vorprogrammiert, geplant und absichtlich herbeigeführt. Der verantwortliche Polizist Achim Zahn und die Stadtregierung ließen die Situation trotz einem großen Polizeiaufgebot bewusst und mit Kalkül eskalieren. Von ausreichenden Vorbeugungsmaßnahmen kann keine Rede sein. Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mainz, Peter Metzdorf ließ analogo.de wissen, man wolle sich zum Prozedere, auf welche Art und Weise die Demonstrations- oder Kundgebungsörtlichkeiten festgelegt werden, nicht äußern. Eigenkritik? Fehlanzeige.

analogo.de meint, mit 200 bis 500 Meter Entfernung vom Bürgerhaus wären die Gegendemonstranten immer noch in Ruf- und Sichtnähe der Wahlkampfveranstaltung gewesen. Hat der Stadtverwaltung diese Eskalation womöglich gefallen? Soviel zur Rolle der Exekutive im Staat.

Welche Rolle spielt die Judikative? Nur wenige Stunden vor der Veranstaltung bestätigte das Verwaltungsgericht Mainz das Demonstrationsrecht der Gegendemonstranten, indem es einen Eilantrag der AfD auf Demonstrationsverbot ablehnte. Auch das ist Demokratie. Während der Demonstration am Abend gab es kaum Anzeigen, so dass die Rechtsprechung mehr mit den Auswüchsen der November-Demonstration beschäftigt sein dürfte. Der Intendant des Mainzer Staatstheaters, Markus Müller ließ seine Mitarbeiter antanzen, um die nicht opportune Demonstration außerhalb des Theaters zu stören. Die Angestellten des Staatstheaters machten brav mit – und setzten sich somit einer möglichen Anklage und Straffälligkeit aus. Zwar ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob der Fall aber vor Gericht landet, ist noch nicht ausgemacht. Denn wir berichteten, wie ausgesprochen milde die Staatsanwaltschaft gegenüber Mainzer Institutionen vorgeht. Da Intendant Müller aber in einer Avance von Frechheit und ohne Reue verkündete, solch eine Tat jederzeit zu wiederholen, dürfte die Justiz eine Strafbewehrung für Müller erwägen. Hier sei erwähnt, dass in diesem Zusammenhang diskutiert werden muss, ob nicht Müller in seiner exponierten Stellung als Intendant eines staatlichen Theaters seinen Hut nehmen sollte.

 

Die Justiz bewohnt in Deutschland die schönsten Paläste, so wie hier den Justizpalast in München. Aber erfüllt die Justiz angesichts eines riesigen Vollzugsdefizits auch die Aufgaben, die sie vom Souverän erhielt? Bildrechte: RitaE auf Pixabay 2072030_1920

Nachdem die Legislative noch nicht zu kritisieren ist, beleuchten wir als nächstes die 2. Staatsebene aus Parteien, Interessengruppen, sozialen Bewegungen und Medien. Die AfD befindet sich im politischen Aufwind, da sich zunehmend viele Bürgerinnen und Bürger vor den eigenen Konsequenzen grenzenloser Immigration ohne Alternative und Grenze ängstigen. Die Ereignisse der letzten Tage wie die Gewalttaten von ungezählten Flüchtlingen scheinen die schlimmsten Befürchtungen zu übertreffen. In Düsseldorf bildet sich derzeit eine Bürgerwehr mit 3.300 Facebook-Mitgliedern.

Während die Bundes-SPD ihren Koalitionspartner CDU/CSU bei der Formulierung von Konsequenzen für die ausländischen Täter zügelt, schwingt die Mainzer SPD die rhetorische Keule gegen den politischen Gegner AfD. Hatte Oberbürgermeister Michael Ebling/SPD die mutmaßlich strafbewehrten Vorfälle durch das Staatstheater im November noch für gut geheißen, rief die SPD diesmal wieder zum – wenn auch friedlichen – Protest gegen die AfD-Veranstaltung auf.

Da Aufrufe gegen den Gegner derzeit so in Mode sind, rufen Bündnis90/Die Grünen angesichts der Kölner Vorfälle nach dem Rechtsstaat und imitieren den Charakter von Demonstrationsteilnehmern – ganz als ob die augenblicklichen Probleme mit Demonstrationen zu lösen wären. Die LINKE sieht eine große Quelle des Gewaltübels in den Kriegsbeteiligungen unserer westlichen Länder und fordert diese einzustellen. Die Piratenpartei ist verwundert, dass Frauen seit Jahren Vergewaltigungen und sexualisierte Übergriffe nicht angezeigt haben. In Köln gab es zur Silvesternacht ganze drei Anzeigen. Mittlerweile stieg die Zahl auf 500. Zwischenfazit: Lassen sich Frauen – auf Kosten der Demokratie – zu viel gefallen und nehmen lieber persönliches Leid in Kauf?

Deutsche regionale und überregionale (Leit-) Medien bestechen seit einiger Zeit durch stark zensierte und interessen-gesteuerte Berichterstattung. Bei den verschiedenen Presseberichten über die Mainzer AfD-Veranstaltung druckte die Mainzer Allgemeine Zeitung die angemeldete Zahl von 400 Gegendemonstranten. Augenzeugen berichteten dagegen von 80 bis kurzzeitlich 300 Gegendemonstranten, also insgesamt einer kleineren Menschenmenge. Übertrieb die AZ aus politischem Kalkül? Währenddessen korrigierte das kleine Internet-Portal Mainz& erst nach Tagen, dass Passanten in Richtung Bürgerhaus massiv behindert, beleidigt, beschimpft und geschubst wurden.

Mit den Interessengruppen nähern wir uns den Bürgerinnen und Bürgern als unterste tragende Ebene des Staates, wobei Personen wahlweise als Einzelperson agieren und/oder sich Interessengruppen wie einer Gegendemonstrationsgruppe anschließen. In Mainz fällt auf, wie viele Personen als Einzelperson und/oder in der Gegendemonstrationsgruppe offenen Rechtsbruch betreiben. Im Dezember zerstörte eine Einzelperson den Wahlkampfstand der AfD. In der Nacht vor der AfD-Veranstaltung in Finthen besprühten Täter Fassade und Fensterscheiben des Bürgerhauses mit feindlichen Verbalnoten gegen die Partei. Die Türschlösser des Gebäudes wurden unbrauchbar gemacht.

Zeitgleich zur AfD-Wahlkampfsitzung versuchte die Gegendemonstrationsgruppe, die partei-internen Gespräche der gehassten Gegenpartei durch Beschallung zu blockieren. Unklug und undemokratisch nennt der Geschichte-Wissenschaftler Andreas Rödder von der Universität Mainz diese Aktionen des „Niedersingens“ (SWR hat Link mittlerweile absichtlich gelöscht). Freiheit sei eben immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, sofern sie nicht verfassungs- oder rechtswidrig genutzt werde. Und in der deutschen Gesellschaft sei eine fundamentale Selbstverständigungsdebatte im Gange, die große Chancen berge. Aber sie tue gut daran, diese Debatte offen und weniger reflexhaft zu führen, so Rödder.

Womöglich werden diese Reflexe bei Demonstrationen von übermäßigem Alkoholkonsum verstärkt. Die AZ-Leserin Antonia Willmen berichtete am 06. Januar im Forum der Zeitung, dass viele der pöbelnden Jugendlichen immer wieder Dosenbier im benachbarten REWE-Markt kauften. Die „Nasenpiercer“ hätten fortan Pogo zu dem Deichkind-Lied Arbeit nervt getanzt, so Willmen. Merkurist-Leser Franz Strauß schilderte im Forum der neuen Internetzeitung Merkurist, die einzigen Nazis vor Ort seien die Linksfaschisten gewesen, die die Bürger an der Ausübung der demokratischen Grundrechte behindert hätten.

analogo.de resümiert:

  1. Bürgerinnen und Bürger von Gruppe A benebeln sich mit Alkohol und beschneiden die Freiheit von anders-denkenden deutschen Bürgerinnen und Bürgern.
  1. Andersdenkende deutsche Bürgerinnen und Bürger der Gruppe B wollen die Freiheit von anders-staatlichen Bürgerinnen und Bürgern (Flüchtlingen, Islamisten, Straftätern etc.) beschneiden, damit sie selber in einem von Ordnung getragenen Staat (über-)leben können.
  1. Die zwei politischen Gegner A & B schöpfen kräftig aus dem – nach Norbert Seitz – probatesten Totschlagarsenal in politischen Auseinandersetzungen seit Gründung der Bundesrepublik: Der Nazi-Analogie. Dabei unterliegen Gruppenbildungen den fatalen Gefahren von zerstörerischem Gruppenverhalten.
  1. Die von den Regierungsparteien gestellte Exekutive spielt bei der Polarisierung der beiden Gruppen eine nicht zu unterschätzende – wenn nicht aufheizende – Rolle. Diese Radikalisierung fällt vor allem dort auf, wo die SPD Regierungsverantwortung trägt. Doch bei aller Angst um den eigenen Machtverlust: Darf der Machterhalt vor dem Staatserhalt stehen?
  1. Neben den offensichtlichen Gefahren und Ängsten der einheimischen Bevölkerung dürfte ein tieferer Grund für den harschen innenpolitischen Kampf in Mainz und Deutschland in der Tatsache liegen, dass die Deutschen bis heute ihren Schuldkomplex vom Holocaust nicht überwunden haben. Die einen wollen die – wie auch immer geartete – Wiederholung des Holocausts verhindern, und schließen die Augen vor den echten Gefahren und Problemen. Die anderen haben entweder bereits Probleme oder wollen besagten Gefahren und Problemen zuvorkommen. Kann man ihnen die Organisation des eigenen Überlebens verwehren?
  1. Die Medien schließlich tun sich schwer, die Energie der beiden Pole mit ihrer Rhetorik auf niedrigem Niveau zu halten. Zu schockierend waren und sind die Ereignisse der letzten Tage.

Die Silvesternacht von Köln war bei allem nur die dünne Kante des Keils, der gerade Deutschland spaltet. Die Flüchtlinge – mit all ihren nach Deutschland importierten Problemen – nehmen dabei die analoge Rolle des traumatisierten und frisch adoptierten Stiefkindes ein, welches die Beziehung der schon lange zerstrittenen Stiefeltern endgültig spaltet. Das Kind (Flüchtlinge) bräuchte den überlebenswichtigen Schutz und psychologische Hilfe. Und die Eltern (Gesellschaft) bräuchten ebenfalls psychologische Hilfe in Form von Eheberatung und Einzelberatung. Derweil schreiben die Gesetzbücher aber vor, dass die Eltern das Kind aufnehmen müssen. Und die wichtigste Korrektur dieser Analogie ist, dass das Kind ein Erwachsener ist, der sich mit seiner vorherigen Familie (Mitbürgern) zerstritten hat.

Kann das aufgenommene Kind bzw. der Erwachsene unter diesen Umständen in Deutschland glücklich werden? Jedenfalls können die Eltern nicht gezwungen werden, das Kind zu adoptieren. Ein Zwang würde das unbedingte Recht auf Selbstbestimmung jedes Elternteils und deren Würde eklatant verletzen. Dabei können Kinder, die im Spannungsfeld zerstrittener Eltern leben, bewiesenermaßen recht formidabel leben. Die Eltern bleiben zerstritten – oder trennen sich. Für den Staat bedeutet das eine Erosion der untersten staatstragenden Säule der Bürger.

An dieser Stelle wird offenbar, dass vor allem die Legislative gefordert ist, schleunigst neue Gesetze für ihre Bürgerinnen und Bürger zu formulieren, die zum Wohle aller am Staat Beteiligten zur Geltung kommen. Die Judikative schließlich muss sicherstellen, dass geltendes Recht auch gilt. Dazu gehört Artikel 16a GG, der regelt, dass politisch Verfolgte kein Asylrecht genießen, sofern sie aus einem Mitgliedstaat der EU oder aus einem anderen Drittstaat einreisen, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Und dazu wiederum gehört explizit auch die Türkei.

Will der Staat Bundesrepublik Deutschland überleben, sind alle am Staat Beteiligten gefordert, nicht nur die Männer als die klassischen Erhalter des Staates. Explizit sei nochmal die Gruppe der Frauen erwähnt. Frauen, die klassischen Erhalter der Familie. Will der Staat überleben, müssen sie sich generell stärker emanzipieren und folglich im Staat mehr Verantwortung übernehmen. Last but not at least, aufgrund innenpolitischer Probleme besteht die Gefahr, dass das jüngste Staatsziel aus dem Fokus gerät: Die Umweltstaatlichkeit in Art 20a GG. Ja, es gibt noch andere Aufgaben zum Staatserhalt unseres Gustos. Während Deutschland über Flüchtlinge streitet, wird zum Beispiel die neue Zulassung für das bedenklich giftige Pestizid Glyphosat durchgewunken.

analogo.de meint: Bei allem Streit ist am Wichtigsten: Die Würde des Menschen darf nicht in Frage gestellt werden, sonst kann man nicht streiten. Dabei müssen sich Gegendemonstranten die Frage gefallen lassen, ob sie die Würde von Flüchtlingen über die Würde von ihren eigenen Mitbürgern stellen.

Ohne Streit muss jeder demokratische Staat zugrunde gehen.