Wie der Komponist Bedřich Smetana Tschechien zum Staat verhalf

Prag, Ostrava | analogo.de – Das Opernhaus in Ostrava möchte den Opern Bedřich Smetanas „Relevanz“ in der Welt von heute geben. Als einziges Opernhaus weltweit führte das Mährisch-Schlesische Nationaltheater von Ostrava im Frühjahr dieses Jahres alle acht Opern des Nationalkomponisten auf. Nun ist es mit der Finanzierung des Opernbetriebes in Tschechien längst nicht so üppig bestellt wie etwa in Deutschland, wo es rund 80 ganzjährig bespielte Opernhäuser gibt. Fakt ist, dass die Oper und der Konzertsaal für Tschechien dennoch eine repräsentative Angelegenheit ist. Unsere besuchte Vorstellung der Oper Hubička war in Ostrava nur rund zur Hälfte gebucht. Auch das Opernhaus in Brünn lebt teilweise von den Klassiktouristen, die per Bus aus Wien angefahren kommen. In Teil 4 unserer Sommerserie Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern Zentraleuropas zeigen wir anhand Bedřich Smetana auf, warum die klassische Musik so wichtig für Tschechien ist. Der ANA LOGO Long Read.

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„Ich aber sage, wir können die Anwesenheit der fremden Scharen nicht länger dulden. Jetzt muss man schon zu Waffen greifen!“ Já ale pravím, nelze déle zde trpěti cizácké sbory! Das Intro von Bedřich Smetanas erster Oper Die Brandenburger in Böhmen fasst die Bedeutung des tschechischen Komponisten in einen Satz. Seit 1918 haben die Tschechen endlich ihren eigenen und nicht mehr fremdbestimmten Staat.

Um dorthin zu gelangen, mussten die deutschsprachigen Dauerbesatzer aus Habsburg-Österreich und Deutschland kräftig einen auf die Mütze bekommen. Traurig, dass es dafür anscheinend zwei Weltkriege brauchte. Wurde 1918 endlich die Tschechoslowakei als neuer freiheitlich-demokratischer Staat ausgerufen, entwickelte sich Tschechien 1993 über einen weiteren Emanzipationsschritt durch eine friedliche Trennung von der Slowakei.

Über die Jahrhunderte war der Weg zur jetzigen Trautsamkeit sehr steinig. Im 19. Jahrhundert unterstützten sich die Romantiker in Europa gegenseitig bei der Herausbildung einer idiomatischen Kultur. Die Idee kam auf, sich von der fremdbestimmten Unterdrückung der großen Imperien zu befreien, weil man selber doch am besten für seine Belange sorgen könne.

Mehr als jeder andere Komponist stand Bedřich Smetana für die Be- und Vertonung des typisch Tschechischen. Jahrhundertelang hatte sich die böhmisch-mährische Gesellschaft eine innerliche Unabhängigkeit gegenüber ihren Regenten bewahrt, symbolisch verankert unter anderem in der Wenzelskrone.

Vielleicht bedarf es nicht der Musik Smetanas, um der Nation Tschechien Relevanz in der Welt der Musik zu geben. Das kleine Land mit seinen fast 11 Millionen Einwohnern hat überproportional viele hervorragende Musiker hervorgebracht, die ihr Land heute im globalen Musikzirkus repräsentieren. Vergleichbar große Länder wie Griechenland, Portugal oder Schweden haben in der klassischen Musik nur einen Bruchteil an Aushängeschildern wie eben Tschechien.

Der in der Dvořák Society und im International Martinů Circle rührige Robert Jindra dirigiert an der Norwegian National Opera und an der Bayerischen Staatsoper. Der Dirigent und Komponist Petr Popelka ist Chefdirigent des Norwegischen Rundfunkorchesters Oslo, Gastdirigent der Janáček Philharmonie Ostrava, Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Prager Rundfunkorchesters und ab der kommenden Herbstsaison Chefdirigent der Wiener Symphoniker.

Der just bei den Londoner Proms aktive Jakub Hrůša ist Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie sowie des in Rom angesiedelten Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Das Royal Opera House Covent Garden hat Hrůša zum neuen Musikdirektor ernannt.

Ganz allgemein verhelfen Jindra, Hrůša, Liška, Popelka und andere tschechische Musiker der tschechischen Musik, außerhalb der eigenen Grenzen bekannt zu werden. Vielleicht ist es wirklich so, dass Tschechen die Stücke ihres Landes besser rüberbringen können als andere Nationalitäten. So führte Jindra den Taktstock bei der Inszenierung von Leoš Janáčeks Das schlaue Füchslein letztes Jahr an der Bayerischen Staatsoper. Hrůša hatte an der Opéra National de Paris für Antonín Dvořáks Märchenoper Rusalka den Hut auf. Robert Jindra dirigierte Janáčeks Oper Jenufa an der Norwegian National Opera. Und Ivan Liška war zwei Jahrzehnte lang Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts.

Tschechische Opern sind en vogue, aber nachwievor längst nicht alle. Nach 80 Jahren Pause nahm das elegante Theater Regensburg dieses Jahr Rusalka wieder ins Programm auf. Dieselbe Märchenoper stand vor ein paar Monaten auch an der Berliner Staatsoper Unter den Linden auf dem Programm. Die Inszenierung galt aber als ‚verhunzt‘. Vielleicht weil mit Kornél Mundruczó ein Ungar die Inszenierung verantwortet, und kein Tscheche? Popelka zumindest meint, an seiner Musik würde man nach zwei Takten das Tschechische erkennen.

Zwischeneinwand: So schwer kann es eigentlich doch nicht sein. Eine Märchenoper ist eine Märchenoper ist ein Märchenoper, in die nun mal keine blöde Wohnküche ohne Naturbezug gehört. Oder im Falle der Aida-Inszenierung am Münchner Nationaltheater: Hier gehts um Ägypten um Ägypten um Ägypten – und nicht um eine ausgebombte Turnhalle in der Ukraine.

Nun ins Detail: Die Opern Smetanas im Musikzirkus relevant zu machen, kann nur gelingen, wenn die zigtausenden Opernbesucher in Mittel- und Zentraleuropa auch andere Opern außer Smetanas komischer Oper Die verkaufte Braut zu Gehör und Gesicht bekommen. Operavision gilt Die verkaufte Braut mit allem Folk und Tanz als Fest der tschechischen Kultur und Identität. Man mag an den Weihnachtsfilm Drei Haselnüsse für Aschenbrödel denken, um zu erkennen, wie sehr Tschechien mit dem Romantischen verbunden wird.

Das Opernhaus in Ostrava möchte den Opern Bedřich Smetanas „Relevanz“ in der Welt von heute geben. Als einziges Opernhaus weltweit führte das Mährisch-Schlesische Nationaltheater von Ostrava im Frühjahr 2024 alle acht Opern des Komponisten auf, darunter Die Brandenburger in Böhmen. Bildrechte: Rainer Winters

Dabei war die Romantik im 19. Jahrhundert immanent mit dem Kampf für mehr Demokratie und Menschenrechte verknüpft. Kein Wunder also, dass Musiker wie Smetana als ‚Revolutionär‘ markiert wurden. In Italien, Polen, im heutigen Tschechien und anderswo nahm die Hoffnung Fahrt auf, dass nationale Einheiten besser für soziale Gerechtigkeit sorgen können als ein imperialer Superstaat. Nationalismus war Zeitgeist, und er bedeutete etwas Gutes. Darin waren sich die internationalen Demokraten einig. Beim Demokratiefestival des Hambacher Festes im Jahre 1832 wehte nicht nur die schwarz-rot-goldene, sondern in brüderlicher Einigkeit auch die polnische Fahne.

Im Revolutionsjahr 1848 hatte Smetana Píseň svobody komponiert, das Lied der Freiheit nach einem Text von Ján Kollár. In seinem großen symphischen Werk Má vlast, übersetzt Mein Vaterland, lässt er einen Hussitenchor schmettern: […] die Ihr Gotteskämpfer seid […]. Die Hussiten waren eine Widerstandsgruppe, die sich gegen die deutsch-päpstlichen Armeen wendeten, nachdem einer der ihren (Jan Hus) als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. In Má vlast lobpreiste Smetana die Geschichte und Schönheit seines Landes (‚aus Böhmens Hain und Flur‘).

Wenn Romantik der bürgerlichen Opposition, der nationalen Einheit, der Freiheit und letztendlich der Volkssouveränität zum Ziel verhelfen kann, dann war es naheliegend, die jahrhundertelange Knechtschaft Tschechiens durch Deutsche und Österreicher durch das romantische Element der Musik abzulösen.

Smetana nahm sich die Opern von Michail Iwanowitsch Glinka zum Vorbild, der heute mit seinen russischen Melodien und Librettos als Gründer der Nationalen Schule Russlands gilt. 1836 wurde Glinkas erste Oper Ein Leben für den Zaren am Bolschoi-Theater von Sankt Petersburg uraufgeführt. 30 Jahre später war es dann in Prag soweit: Smetanas erste Oper Die Brandenburger in Böhmen wurde am großen neuen Theater uraufgeführt.

Der Titel der Opern lässt erahnen, worum es hier geht. Ganz allgemein um eine der zahlreichen kolonialen Aktionen, bei denen sich Deutsche gegenüber Tschechen wie Herrenmenschen gebähren. Unvergessen die Herrenmenschenattituden des Johann T’Serclaes von Tilly, Befehlshaber der deutschen Schlächter-Armeen im Dreißigjährigen Krieg, als dieser Tausende ‚Aufständische‘ in Böhmen tötet.

Kampf gegen Habsburg, Brandenburg und andere Besatzer

In Tschechien unvergessen die Herrenmenschenattituden der deutsch-päpstlichen Schlächter, als sie den böhmischen Reformator Jan Hus als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, nur weil er die geltenden Machtansprüche im ‚Heiligen‘ Römischen Reich Deutscher Nation in Frage stellt.

Böhmische Herrscher holten sich das Problem aber auch selbst ins Haus. Wenn sie zum Beispiel ein Brandenburger Heer baten, für sie doch bitte ein habsburg-österreichisches Heer zu vertreiben. Die Drecksarbeit der territorialen Verteidigung nicht selber machen zu wollen, war der Kardinalfehler der böhmischen Herrscher über die Jahrhunderte.

In verwandter Form auch geschehen, als die Sudentendeutschen mit Faust’schen Temperament die Nazis in Tschechien als Retter willkommen hießen, da sie weniger Rechte als die tschechische Bevölkerungsmehrheit hatten – was sie sehr bald bereuten, als sie sahen, wie übel die Nazis agierten.

Vielleicht ist dies der Hauptgrund, warum es die Oper Die Brandenburger in Böhmen bei deutschem Publikum so schwer hat. Ob das deutsche Publikum womöglich nicht sehen will, wie ihre Vorfahren als Siedler und als Befreier versagten?

Smetana jedenfalls kämpfte als Partisan für bürgerliche Rechte und Freiheiten sowie für die nationale Einheit. Während der tyrannischen Regierungszeit des Habsburger Kaisers Franz Joseph I. und seinem willigen Söldner Alexander von Bach, zog es Smetana ins ruhigere Schweden. Als er ein paar Jahre aus Göteburg zurückkehrt, hat sich die revolutionäre Lage ein wenig beruhigt.

Acht Jahre brutalster Gewaltherrschaft hatten bei den Tschechen Narben hinterlassen. Nun schreibt Smetana nicht nur Musikstücke, sondern auch als Journalist für die sehr einflussreichen Národní listy, die tschechisch-politischen Volksblätter. Zumindest in derjenigen Periode dieser Zeit, als die Habsburger tschechische Zeitungen einmal nicht verbieten.

Initialzündung Preisausschreiben

Smetana fällt das Libretto des demokratieaktivistischen Journalisten Karel Sabina in die Hand. Sein Freund Ludwig Prochazka hatte es ihm vermittelt. 1861 schreibt der sich gerade vom Absolutismus Wiens abwendende Graf Johann Nepomuk von Harrach einen Wettbewerb für eine originelle tschechische Nationaloper aus. Smetana gewinnt das Preisausschreiben und schreibt seine Anti-Kolonialismus-Oper Die Brandenburger in Böhmen. Ein Preisausschreiben führt zu Smetanas Schicksal, ab jetzt Musikwerke für die tschechische Sache schreiben zu sollen.

Am Stoff seiner Opern erkennt man Smetanas politisches Programm. In seiner dritten Oper Dalibor thematisiert Smetana einen böhmischen Ritter zu einer Zeit, als sich die böhmischen Stände schon den polnisch-litauischen Jagiellonen unterworfen hatten. Auch hier setzt sich jemand – diesmal ein böhmischer Ritter – für unterdrückte Menschen ein. Der Kampf für Freiheit und gegen Unterdrückung ist das Thema Tschechiens.

Smetanas Oper Libuše handelt von Libussa, der legendären Vorfahrin der eintausend Jahre alten böhmischen Přemyslidendynastie. Am Ende widmete er sie – mit viel nationalem Pathos – dem großen Nationaltheater in Prag, auf tscheschich velké národní divadlo.

In seiner Musik erinnerte Smetana manche an Richard Wagner, wofür er viel Kritik bekam. Smetana wurde vorgehalten, kein ausreichend klares tschechisches Profil zu haben. Was dazu führte, dass er in manche seiner Opern einen auf Mozart machte, so zum Beispiel in Hubička (zu deutsch: Der Kuss) und Prodaná nevěsta (zu deutsch: Die verkaufte Braut). Sich vom anderen abgrenzen, etwas Eigenes, etwas Besonderes sein, und so eine Identität bilden. Erzähl uns etwas von Deiner Region und so können wir Dich im Kontrast zu uns besser wahrnehmen.

Smetana und Wagner ähnelten sich nicht nur im Musikstil, sondern brannten auch für die gleiche Sache. Auch Wagner war ein Revoluzzer und wurde nach seiner Teilnahme am Dresdner Maiaufstand 1849 per Steckbrief gesucht. Auch Wagner hatte Opern und Presseartikel für die revolutionären Volksblätter geschrieben. Die beiden lebten zur selben Zeit. Alleine im Jahre 1876 wurden Smetanas Oper Hubička, Dvořáks Oper Vanda und Wagners Opern Götterdämmerung und Siegfried uraufgeführt.

Auch mit nur kleiner Ausstattung bringt das Opernhaus in Ostrava großartige Opernwerke auf die Bühne, hier Smetanas Hubička. Anna Nitrová, Veronika Rovná als Vendulka, František Zahradníček als Otec Paloucký. Foto: Martin Popelář

Smetana hatte eindeutig ein Thema mit dem Grenzbereich Tschechien/Deutschland. In seinem Heimatland Böhmen und Mähren regierten zu seinen Lebzeiten die streng in Wien zentralisierenden Habsburger. Tschechisch wurde hier erst mit der Nationalitätenverordnung 1897 zur Nationalsprache (wenn auch nur für sehr kurze Zeit weil die Deutschsprachler im Parlament den Aufstand probten).

Die Amtssprache in Böhmen und Mähren war die Sprache der Besatzer, also Deutsch. Was für Smetana eine natürliche Sache war. Denn nicht nur wuchs er zuhause deutschsprachig auf (der kleine Friedrich), sondern Deutsch war auch die „höhere“ Sprache in Verwaltung, Schulwesen, in Wirtschaft und Wissenschaft. Das Tschechische  galt als die niedere Sprache. Folglich musste Smetana das Tschechische erst erlernen, und er brauchte noch länger, bis er tschechischsprachige Briefe schrieb.

Ausgerechnet für ihn als den späteren Nationalkomponisten blieb der persönliche Wechsel vom Deutschen zum Tschechischen ein Kraftakt. Er hatte das Tschechische zu spät erlernt, sprach und vor allem schrieb bis zu seinem Lebensende kein einhundertprozentiges Tschechisch. Man erinnert sich an Franz Liszt, der an der Grenze von Österreich zu Ungarn deutschsprachig aufwuchs, es aber schon damals schwierig fand, sich für eine Hauptsprache zu entscheiden. Als Jugendlicher lernte er Französisch und zog später sogar nach Paris. Erst in seinen 60ern lernte er ungarisch, die Sprache des Landes, aus dem er stammte. Liszt und Smetana hatten in diesem Sinne ähnliche Schicksale und Empfindungen. Sie wurden Freunde.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts fingen die tschechisch- und deutschsprachigen Bevölkerungsteile an, sich auseinanderzuleben. Eine Entwicklung, wie sie heutzutage in Deutschland stattfindet, wo Türkischsprachler in ihrer Parallelkultur so lange Türkisch sprechen, bis es gar nicht mehr anders geht. Rein deutsch- und tschechischsprachige Vereine wurden gegründet. 1860 wird unweit von Prag Gustav Mahler geboren. Der neben Beethoven genialste Symphoniker bedauerte noch Jahre später sein Gefühl der Heimatlosigkeit, als Böhme in Österreich, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.

Weil Habsburg-Österreich Böhmen besetzt hatte, weil die Tschechen zwar eine Nation aber keinen Staat hatten und weil Habsburg-Österreich mit den deutschen Ländern so verflochten war, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte (was ist schon der Unterschied zwischen Bayern und Österreich). Erschwerend kam die geschichtliche Erkenntis hinzu, dass die Christenheit nunmal eine so gewalttätige untolerante Glaubensgruppierung ist und nicht jede Religionsgemeinschaft einen eigenen Staat aufmachen kann.

Schubert, Mahler, Smetana, Liszt – was die Komponisten verbindet

Nicht zu wissen, zu wem man gehört, ja wer man überhaupt ist, führt zu starkem Misstrauen gegenüber der Gemeinschaft. Die in Deutschland grassierende Cancel Culture bekräftigt solch ein Misstrauen in alle Richtungen. Die deutschtypischen Bei-Juden-kaufen-wir-nicht-Reflexe werden heute nur auf andere Gruppen gelenkt. In Tschechien aber auch in den angrenzenden Ländern Polen, Slowakei, Ungarn ist das Misstrauen der Bevölkerung stark ausgebildet. Kein Wunder, wurden die Tschechen doch jahrhundertelang fremdregiert.

Und selbst innerhalb der Bevölkerungsgemeinschaft in Tschechien stammten noch Anfang des 20. Jahrhunderts rund ein Drittel aller Menschen aus deutschsprachigen Landen, die mehrheitlich zuhause Deutsch sprachen. Man war zwar tschechisch-böhmisch-mährisch-schlesisch, außerdem stellte man die Mehrheit. Aber irgendwie war auch den Tschechen die ganze Zeit klar, dass eine 2/3-Mehrheit der 1/3-Minderheit nicht diktieren kann, wie man lebt.

Auch Franz Schubert hatte tschechische Vorfahren. Sein Vater stammte aus der Grenzregion Tschechien/Polen. Mit seinen sudetenschlesischen Wurzeln und einem hervorragenden musikalischen Talent war es erwartbar, dass Schubert irgendwann in Wien landen musste. In Tschechien hatte man sich über Jahrhunderte daran gewöhnt, in Richtung Süden nach Wien zu schauen, dem Regierungs-, Kultur- und Machtsitz der Besatzer.

Smetana jedenfalls wandelte sich, nachdem die Habsburger die freiheitlichen Bestrebungen in der Gegend nach 1848 so brutal niedergeschlagen hatten. Doch es kam noch schlimmer. Nach der Bildung des deutschen Kaiserreiches 1871 bekam die andere deutschsprachige Gruppe aus dem Westen Oberwasser. Nun wurden in ganz Tschechien deutsche Theater errichtet, viele von ihnen ausschließlich deutschsprachig.

Im Theater von Troppau/Opava war Deutsch ab 1883 gesetzt, in Eger/Cheb 1874 und im Deutschen Theater von Teschen/Cieszyn ab 1910. Gleiches geschah in den Stadttheatern von Krummau/Český Krumlov (1810), Bielitz/Bílsko (1890), Ostrau/Ostrava (1907), Ölmütz/Olomouc (1830), Marienbad/Mariánské Lázně (1868), Karlsbad/Karlovy Vary (1886), im Deutschen Stadttheater von Brünn/Brno (1882) und im Kleinen Theater in Pilsen/Plzeň (1869). Das Auseinanderdriften führte zur Gründung von rein tschechischen Stadttheatern, so in Brünn/Brno (1884), Konigsgrätz/Hradec Králové (Klicpera-Theater von 1885) und Pilsen/Plzeň (Tschechisches Theater der Königlichen Stadt Pilsen von 1902).

Wie heute die Parallelkultur der Türken in Deutschland oder der Pakistanis in Großbritannien, trieben die Deutschsprachler ihre Kultur vor allem in den Städten voran. Der Bau von Theaterhäusern und Musiktempeln war ein wichtiges Wesensmerkmal der Germanisierung tschechischer Länder.

Nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei 1918 dauerte es nicht lange, bis abermals die Deutschen als Herrenmenschen auftraten. Im Münchner Sudentenmuseum wird sehr anschaulich dargestellt, warum die Deutschsprachler die Nazis willkommen hießen. In Zeiten der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre waren ihnen von der slawisch-geführten Bevölkerungsmehrheit nicht dieselben Hilfen zuteil geworden wie der tschechischsprachigen Mehrheit. Aus den deutschsprachigen Vereinen bildeten sie politische Parteien.

Nazis = letzte Germanisierungswelle

Die von den Sudetendeutschen erst willkommen geheißenen Nazis stellten sich schon sehr bald als nicht so tolle Retter heraus. Ein Spiegelbild der ‚Brandenburger in Böhmen‘. Die Nazis verboten allerhand, unter anderem die Musik von Bohuslav Martinů, der ebenfalls für die Sache der Tschechen komponiert hatte. Musik und Politik schreiten in Tschechien traditionell Seite an Seite.

Letztlich schien es einen zweiten Weltkrieg zu brauchen, damit das Schicksal auch die letzte Germanisierungswelle verebben ließ. Mitte der 1940er Jahre vertrieben die Tschechen die letzten Deutschen aus ihren Landen. Doch kaum waren die einen fort, kamen die nächsten Besatzer, dieses Mal aus dem Osten. Zwar hatte die Rote Armee der Sowjetunion geholfen, die Nazis aus Tschechien zu vertreiben, aber sie trieben es ebenso herrenmännisch wie zuvor die Habs- und Brandenburger.

Smetanas Brandenburger-Oper war unter Aufsicht der habsburgisch-österreichischen Besatzer uraufgeführt worden, von den deutschen Besatzern verboten (das Verbot – oh welch‘ Lieblingstat der Deutschen) und unter sowjetischem Einfluss geduldet aber doch bitte ohne hörbaren Applaus.

Das sowjetische Kapitel in Tschechien gehört nun ebenfalls in die Geschichtsbücher. Wie es aussieht, ist die Romantik ein brauchbares Vehikel für das Unabhängigkeitsbestreben einer Nation. Den Tschechen hat die Musik dabei geholfen – und insbesondere Bedřich Smetana. Wie kein anderes europäisches Land steht Tschechien heute in Europa als das Modell einer freiheitssuchenden Nation. In Zeiten immer stärkerer staatlicher Repression werden tschechische Opern und insbesondere diejenigen von Smetana ein populärer Stoff bleiben.

Ob die Opern Smetanas allerdings auf absehbare Zeit in deutschsprachigen Ländern mehr Relevanz erfahren, darf angesichts der deutschen Obsession für Krieg und einer traditionellen Obrigkeitshörigkeit der Deutschen bezweifelt werden. Hier sollten die Hoffnungen eher auf westeuropäischen und skandinavischen Bühnen liegen. Das Antonín-Dvořák-Theater von Ostrava ist auf jeden Fall ein angemessener Ort, um der tschechischen Romantik eine Bühne zu geben.

Romantisches Antonín-Dvořák-Theater von Ostrava. Foto: Martin Popelář