Salzburg | analogo.de – Anlässlich des gestrigen UNESCO Welttages der Frauen schauen wir uns heute die Rolle von Frauen in der Oper an. Die konkrete Oper ‚Lucio Silla‘ ist ein Stück vom 16-jährigen Wolfgang Amadeus Mozart. Der junge Mann hatte sie in Italien geschrieben, wo sie dann insgesamt 26 Male aufgeführt wurde. Halb so oft, genau 13 Mal, stand das Werk im letzten Jahr auf der Bühne im wunderschönen Landestheater von Salzburg. analogo.de war live dabei und berichtet im Rahmen unserer Serie Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern in Zentraleuropa. Ein ANA LOGO Long Read.
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Im Gegensatz zu Mozart’s Zauberflöte ist Lucio Silla eine Oper mit einer sehr glaubwürdigen Handlung. Das hat die Konsequenz, dass wir die Zauberflöte als zauberhaft empfinden und Lucio Silla als entzaubernd. Lucio Silla ist der römische Diktator Lucius Cornelius Sulla Felix, der die Bevölkerung und die gewählten Volksvertreter Roms (Volkstribune genannt) rund 70 Jahre vor Christus unterdrückt. Sulla galt der Nachwelt als so außerordentlich brutal, dass seine Geschichte in verschiedenen Opern vertont wurde.
In der Version von Mozart will Silla die Frau Giunia für sich, obwohl er weiß, dass sie mit Cecilio liiert ist. Hier ist es wider, das in Opern tausendfach besungene Schicksal von Frauen. Männer nehmen sich alles heraus, um die Frau für sich zu gewinnen. Je größer die Macht des Mannes, desto grausamer seine ‚Bemühungen‘.
Frauen in der Hauptrolle
In der Vorführung vom 10. April wird die ‚prima donna‘ Giunia von der Sopranistin Nina Solodovnikova gesungen, Solodovnikova wird auch der Sängerstar des Abends. Im Sommer 2025 wird die Russin an der Deutschen Oper Berlin in der Zauberflöte zu hören sein.
Der Diktator Silla hat eine Schwester namens Celia. Sie wird von der italienischen Sopranistin Anita Giovanna Rosati gesungen, der zweite gesangsmäßige Lichtblick des Abends. Ansonsten tauchen im Verlaufe der dreistündigen Oper nur noch vier weitere Hauptsänger auf der Bühne auf. Drei von ihnen stammen aus Schottland bzw. haben ihre Ausbildung dort genossen: Tenor Joseph Doody singt den Geheimdienstchef Aufidio, Tenor Luke Sinclair den Diktator und Mezzosopranistin Katie Coventry die Rolle des Geliebten Cecelio. Ja, Katie Coventry singt die Rolle eines Mannes, die früher von Kastratentenören ausgefüllt wurde.
Wie damals üblich, hatte Mozart die Rollen auf das Können der Sänger zugeschnitten. Als der Interpret für Silla ausfiel, musste er durch einen kaum erfahrenen Sänger ersetzt werden. So singt der Hauptdarsteller in der gesamten dreistündigen Oper nur zwei Arien. Der Chor des Abends ist der Opernchor des Salzburger Landestheaters, im Orchestergraben sitzt das Mozarteumorchester Salzburg.
Wir hören also Mozart in seiner Stadt Salzburg. Es mag verwunderlich klingen, dass Salzburg zwar die Mozartstadt ist, der heutzutage berühmte Komponist aber in seiner Heimatstadt kaum echte Erfolge feiern konnte. Immer musste Mozart verreisen, um ans Licht zu kommen. Nach Italien ging er wegen der Opern, die er so liebte. Nach Paris und Prag ging er wegen des Ruhmes. Nach Dresden, Leipzig und Berlin wegen des Geldes. Und nach Wien und London wegen allem zusammen. Hauptsache weg von Salzburg.

Seit Cecilia Bartoli im Jahre 2012 die Salzburger Pfingstfestspiele als Intendantin übernommen hatte, stand Mozart-Musik nie im Mittelpunkt des Programms. Letztes Jahr dann endlich meinte Bartoli, das müsse sich ändern und widmete ihrem Lieblingskomponisten Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart ganze vier Tage. Schließlich habe Mozart ein Universum geschaffen, meint Bartoli.
Frauen in der Regie
Das Universum des Abends ist dystopisch-düster. Der Diktator unterdrückt sein Volk und trennt das Liebespärchen. Silla ist ein Monster, welches die Bevölkerung überwacht und mit Tod und Verbannung bedroht. Die musikalischen Klänge sind die Originaltöne von 1772, die Texte stammen aus dem Original-Libretto Giovanni di Gamerras und das Landestheater Salzburg erscheint im altehrwürdigen Glanz des Neobarock. Der Ausreißer des Abends sind Bühnenbild, Kostüme und die Inszenierung.
Verantwortlich für die Inszenierung zeigt sich die Opernregisseurin Amélie Niermeyer. Das Ergebnis kommt so ultramodern dystopisch daher, dass der Kontrast zu den alten Komponenten schmerzt. Erinnerungen an Niermeyers Regie zu Mozarts La Clemenza de Tito vor rund zehn Jahren werden wach: Langweiliges spießbürgerliches Bühnenbild. Wenn die Menschen wegen dem Barock nach Salzburg kommen, werden sie es im Landestheater dieser Tage nicht so einfach finden.
Ja warum nicht gleich die Musik verändern und gar andere Arien singen? Aber nein, auf das modernere Klavier hatte man schließlich auch verzichtet und es durch ein alt-klingendes Cembalo ersetzt, gespielt von dem Cembalisten Tobias Meichsner. Der junge Kapellmeister Carlo Benedetto Cimento wird sich gedacht haben, man führe ja hier eine alte klassizistische Oper auf, die dürfe schon im Stile des Klassizismus erklingen.
Doch was kümmert die Opernregisseure die Ästhetik? Die Ästhetik eines Opernbesuches ist dann gegeben, wenn Musik, Tanz, Dekor und Kostüme eine harmonische Einheit bilden. Die Aufführung in Salzburg an diesem Abend muss insofern als dissonant bezeichnet werden. Was wohl Mozart dazu gesagt hätte, hätte er wie bei der Uraufführung seiner Zauberflöte – vom Hammerklavier aus dirigierend – auf die Bühne geschaut?
Im beiliegenden Programm erklärt sich das Landestheater. Sulla war ein böser Schreckensherrscher, der die Menschen terrorisierte. Erinnerungen an den Roman 1984 von Orwell werden wach, wo der unsichtbar bleibende Staat jede und jeden ausspioniert. Big brother is watching you und die Algorithmen der künstlichen Intelligenz machen es möglich. Genau wie nicht wenige Staaten heute ließ Sulla Listen von Staatskritikern anfertigen, angefüllt mit zu verbannenden, zu ächtenden und zu tötenden Römern.
Draußen auf der Straße, im Salzburg der 2020er-Jahre, spürt man schon die Folgen solchen Staatsgebärdens. An Straßenlaternen hängen Aufkleber der schwarz gekleideten Terrorgruppe Antifa. Wie im Film V for Vendetta verstecken die anonymen und gesichtslosen Menschen ihre Individualität, um vor dem System unterzutauchen, weil der Staat sonst auf sie zugreifen könnte.

Aber gehen die Menschen nicht nach wie vor in die Oper, um zu träumen? Warum müssen Opernregisseure die Hoffnungslosigkeit der den Abendnachrichten entfliehenden Menschen verstärken, indem sie sie aus ihren Opernträumen reißen und womöglich vorhandene Traumatisierungen mittels düsterer Effekte gar erhärten? Muss man Bilder der Hoffnungslosigkeit in die Welt setzen und den Pessimismus durch Beton verstärken?
Frauen als Opfer
Opern haben Geschichten, die Sterbenden singen und fast immer sind die Frauen die Verlierer: Wenn sie am Ende nicht sterben, werden sie doch zumindest von mindestens einem Mann unterdrückt. Das Muster von aggressiven Männern ist so klar, wie Friedrich Merz Waffen an die Ukraine liefern will. Und obwohl Frauen so häufig Opfer von Gewalttaten werden, entscheiden sie sich überraschend ebenso häufig für den Krieg.
Vielleicht tun sie das so oft, weil sie wie Mozart denken, dass der Tod der wahre Endzweck des Lebens ist, ja sein bester Freund. Dass der Tod der natürliche Gegenpart des Lebens ist, wie die hinduistische Göttin Kali zugleich für Zerstörung und Erneuerung zuständig ist. Der Tod hatte für Mozart immer etwas Beruhigendes und Tröstendes. Zeit seines Lebens war Mozart immer mal wieder schwer krank, überlebte häufig nur ganz knapp.
Auf besondere Weise teilte Mozart das Schicksal von Frauen in der Oper. Einserseits begehrt, aber nicht auskömmlich bezahlt, nicht mit Respekt und Würde behandelt, sondern im Gegenteil beschnitten, bevormundet und gedemütigt. Wie Legionen von Männern in ungezählten Kriegen zu Tode kommen, ist das traurige Schicksal von Frauen der thematisch verlässliche rote Faden in Opern.
Hier werden Frauen entwürdigt, erpresst, erniedrigt und getötet. Von Männern natürlich, die bei den Frauen immer wieder Fehler finden, sei es, dass sie dem drängenden Begehren des Mannes nicht nachkommen (Richard Strauss‘ Daphne), dass sie unverheiratet sind (Bellinis La Sonnambula, Verdis Simon Boccanegra), nicht genug patriotisch sind (Verdis Aida), Fehlverhalten zeigen (Verdis La Traviata), untreu sind (Mozarts Così fan tutte), zu viel vom Mann wollen (Puccinis Madame Butterfly) oder dem Mann einfach kein Kind gebären (Donizettis Anna Bolena).
Frauen & das Drama
Frei nach Alfred de Musset sind die verzweifeltsten Lieder die schönsten. Der französische Poet und Dramatiker sagte einmal, er kenne unsterbliche Lieder, die reine Tränen seien. Wer anders als Frauen mit ihrer Empathiefähigkeit und Nähe zu Tränen sollten uns die Dramen der Opernwelt näherbringen können? Mozarts Lucio Silla ist eine Opera seria bzw. Dramma per musica, eine in Dramen gegossene Musik.
Dramen sind das Leben. Seit Tausenden Jahren werden sie für die Götter gesungen. Was wären Opern ohne ihre epische Schwere? Wer liebt nicht die warm timbrierte Dramatik von Sinfonieorchestern? Wer will die Oper schon in einem Zustand des Ertrinkens im „szenischen Nichts“ verlassen? Wer will ein Bundesligaspiel schauen, in dem keine Tore fallen?
Das Drama des Abends sei anhand unserer berühmten #Erlebnisschnipsel erzählt. Los gehts:
1. Laseranimation. Die Such-Laser des Regimes suchen die Bühne ab. Orwells 1984 lässt grüßen. Die Inszenierung hat etwas gemein mit Mozarts Uraufführung. Mozart, der alte Freimaurer, stand für die Freiheit. Heute würden wir das Demokratie nennen. Die Inszenierung des Abends erinnert genau daran, denn es hat sich herumgesprochen, dass selbst in Europa keine wahre Freiheit mehr herrscht. Der Staat überwacht mit Hilfe von Google, Facebook, Strato, Deutsche Telekom, NSA & Co. jeden einzelnen Bürger.
2. Action am Schaltpult, eine moderne Inszenierung halt.
3. Disco-Nebel steigt auf, auch am Orchestergraben. Ob die Musiker noch Luft bekommen?
4. Moderne Verzweiflung, eine Frau springt in die Nische einer Betonwand.
5. Nach 25 Minuten fällt zum ersten Mal der Ruf eines Namens: Celia.
6. Eine Frau trägt eine rosa Bluse, ein Farbklecks vor grau-schwarzer Kulisse. Eine Lichtgestalt in Mordor.
7. Jetzt gehts um starke Vaterfiguren: Den Wunsch meines toten Vaters will ich achten.
8. Nina Solodovnikova stimmgewaltig, das Landestheater vom Schalldruck her gut ausgefüllt. Diese Frau kann auch auf großen Bühnen singen.
9. Der Diktator: Das Gefühl soll schweigen. Luke Sinclair erinnert an den politischen Alltag des Jahres 2025, in dem seitens der Europäischen Union Hass kriminalisiert wird. Sollte man Gefühle zum Schweigen bringen dürfen?
10. Weiter der Diktator: Dass in mir jede verschmähte Neigung sich in Wut und Rache … Stop. Ha. In der Oper ist Hass also erlaubt. Luke Sinclair wiederholt den Text sogar. Wann wohl werden Gefühle aus der Theaterwelt zensiert? Ab 2030 mit einem neuen EU-Gesetz? Vance, Musk und Trump liegen kaum falsch, wenn sie die europaweiten Einschränkungen freier Meinungsäußerungen kritisieren.
11. Das Mozarteumorchester Salzburg jetzt mit Spannungsbögen à la Philipp Glass. Wunderbare Musik.
12. Erstmals erscheint jetzt eine größere Gruppe auf der Bühne. Der Chor ist urban gekleidet.
13. Der Chor klagt: Aus diesen düsteren Urnen, tretet nun hervor, ihr ehrwürdigen Seelen. Nehmt zornig Rache für die Freiheit Roms. Wieder dieser Hass, und das für die Freiheit.
14. Giunia dramatisch: Bist Du bei mir, teurer Schatten meines Vaters. Sollen meine Seufzer und Tränen Dich zu Mitleid rühren.
15. Endlich hört man auch mal eine andere Frauenstimme. Es ist schon eine Oper mit einer kleinen Besetzung (die Uraufführung fand im kleinen Teatro Ducale in Mailand statt), aber nicht alle sechs Hauptdarsteller singen in gleichen Zeitanteilen.
16. Giunia und Cecilio, die Geliebten im Duett. Giunia trägt ein schwarzes Kleid, weißes Unterkleid, ist mit Tonerde beschmiert, wie man es etwa von Femen kennt. Warum machen Femen das? Unisono singen Katie Coventry und Nina Solodovnikova: Zeig mir das Weinen meiner Augen, dass auch die Freude ihre Tränen hat.

17. Ein Dia projeziert ein Gesicht. Die Frau ist das Opfer, über das man sich unterhält. Silla und sein Geheimdienstchef wollen der Frau Schlechtes antun. Die Verschwörung der Mächtigen erinnert an Die Tribute von Panem bzw. die Hunger Games. Joseph Doody alias Geheimdienstchef Aufidio überzeugt nicht wirklich.
18. Schwarzweiß-Bilder von Opfern, Friedhofslichter. Der Geheimdienstchef verbrennt ein Bild. Die Koloratur von Joseph Doody jetzt gelungen.
19. Rohe Gewalt von zwei Frauen auf der Bühne.
20. Stille. Keine Musik, kein Lied. Das einzige, was man hört, ist die Klimaanlage des Landestheaters.
21. Giunia steht vor der Betonwand: Wenn ich der entsetzlichen Gefahren des Geliebten mich erinnere, lässt mich alles erschaudern und erstarren.
22. Die Musik jetzt klassisch, die Logen rundherum im Neobarock, die Bühne ganz Beton.
23. Der zweite Akt beginnt. Die Musik erinnert an Mozarts Klarinettenkonzert KV 622, welches er gleichwohl 19 Jahre später komponierte. Die Melodie des Adagios kennen wir aus dem Film Out of Africa mit Robert Redford, Meryl Streep und Klaus Maria Brandauer.
24. Der Diktator stößt auf Abwehr bei Giunia, die ihn nicht will. Giunia: Den Tod fürchtet kein Römerherz. In zeitgenössisches Verständnis übersetzt: Den Tod fürchtet kein Araberherz.
25. Oh wow, wie Giunia, also Nina Solodovnikova das „Ombra“ singt. In düsteren Gedanken an den Tod, scheine ich meinen Gefährten schon entseelt zu sehen, wie er mit eisiger Hand mir die vom Blut noch warme Wunde weist und sagt: Was zögerst Du zu sterben? Ich wanke, verlösche, sterbe schon und eilig folge ich dem Schatten (also Ombra) des angebeteten dahingeschiedenen Bräutigams. Das Orchester in der Begleitung: Titatatata.
26. Der Chor, die Jubelbürger werden orchestriert.
27. Das Cembalo stimmt den Ton für den Sänger an.
28. Aufidio jetzt wie Goebbels, den Menschen das Menschsein absprechend. Düster.
29. Während der vergangenen drei Stunden hat sich die Bühnenmitte oft gedreht. Um den Kern des Karussells sind verschiedene Bühnenausstattungen angebracht. Kluge Lichteffekte von Tobias Löffler machen das Karussell zum Raumwunder.
30. Nina Solodovnikova hat auch schauspielerisch überzeugt.
31. Das Ende der Oper wird manchmal mit einem Diktator dargestellt, der aus lauter Großmut zurücktritt, und ein anderes Mal mit einem obsiegenden Diktator Sulla. Eigentlich ist es egal, ob das Stück dystopisch oder utopisch in Hoffnung endet. Für die wahren Menschen im Rom vor 2.075 Jahren war der Tod Sullas nicht das Ende des Schreckens, der (Bürger-) Krieg gegen das Volk ging weiter. Und wie wir wissen, hat sich seit 2.075 Jahren nicht wirklich viel zum Besseren geändert.
Das Stück ist aus. Das Licht geht an, die Lampen in den Logen haben eine Violinenform, wunderschön. Die Schautafel über der Bühne zeigte die Übersetzung aus dem Italienischen diskret und vorbildlich einmal in deutscher und daneben in englischer Sprache. Seit der neuerlichen Renovierung des Theaters kann man seine Füße wunderbar unter den Vordersitz verschwinden lassen. Die Sitze sind bequem und lassen auch den Knien großer Menschen freien Raum.
Ein besonderes Lob an Ensemble und Orchester, drei Stunden Arbeit ist kein Pappenstiel.
