Wiesbaden / Mainz | analogo.de – Weil die Städte Wiesbaden und Mainz eine gemeinsame Umweltzone teilen, könnte Dieselfahrzeugen über die Ländergrenze des Rheins hinweg bald die Einfahrt in beide Städte untersagt werden. Zwar haben die Verwaltungsgerichte in Wiesbaden und Mainz derzeit separat über effektive Maßnahmen zu richten, um die Konzentrationen des sehr giftigen Gases Stickstoffdioxid (NO2) in der Atemluft zu senken. Aber die Paarung aus gemeinsamer Umweltzone und der Tatsache von sechs Jahren wirkungsloser Maßnahmen hebt die Wahrscheinlichkeit von deutlichen Urteilen seitens beider Gerichte. analogo.de bat alle Parteien des Stadtrats Mainz und der Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden um eine Stellungnahme, welche Maßnahmen die Parteien vorschlagen um kurz- und langfristig unterhalb der Grenzwerte zu bleiben und welches Modell eines möglichen Dieselfahrverbotes sie unterstützen. Die Parteien beschränkten sich auf Handlungsempfehlungen an die Politik, halten sich aber offensichtlich mit Handlungsempfehlungen an ihre Verwaltungsgerichte zurück.
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Aufgrund der „drohenden“ Gesundheitsschäden für die Bevölkerung mahnt die unabhängige Liste Wiesbaden der liberal-konservativen Reformer (LKR), die Politik dürfe keine Maßnahme pauschal ausschließen. Dazu zählt die Partei ebenso Dieselfahrverbote wie die Einführung einer Blauen Plakette. Fraktionsreferent Julius Kessler ließ analogo.de wissen, bereits im Januar diesen Jahres habe man einen Antrag an den Magistrat gestellt mit der Aufforderung etwaige Dieselfahrverbote zu prüfen und einen Plan für die soziale Verträglichkeit der Maßnahmen für die Wiesbadener Stadtbevölkerung auszuarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass der Magistrat bereits die Umsetzungspläne in der Schublade hat und sie hervorholen kann, sobald die Gerichte in den nächsten fünf Monaten Urteile zum Thema verkünden. Wir berichteten über die Klagehistorien in Mainz und Wiesbaden.
Die LKR hält Dieselfahrverbote explizit für durchsetzbar, sofern den Bürgern noch genug Zeit gelassen werde sich darauf vorzubereiten und solange es eine Unterstützungsstrategie für die Betroffenen gäbe. Auch die SPD Wiesbaden sieht Dieselfahrverbote auf die Menschen zukommen. Der verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Stadtverordnetenfraktion, Dennis Volk-Borowski weist in einem Schreiben an analogo.de darauf hin, dass ein Gericht ein unmittelbares Dieselfahrverbot für den Fall aussprechen könnte, dass keine andersartigen geeigneten Maßnahmen angewendet würden um die NOx-Belastung hinreichend zu reduzieren.
Ab wann ist eine Maßnahme „geeignet“?
Der Satz hat es in sich: „keine andersartigen geeigneten Maßnahmen“. Denn schon seit Juli 2011 klagt die Umweltschutzorganisation der Deutschen Umwelthilfe (DUH) wegen zu hoher NO2-Werte in Wiesbaden. Am 10. Oktober 2011, also vor genau sechs Jahren, verdonnerte das seitdem immer wieder zuständige VG Wiesbaden das Land Hessen mit ihrem Ministerium für Umwelt zu Verbesserungsmaßnahmen (AZ.: 4 K 757/11.WI). Am 16. August 2012 verpflichtete das Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden das Land Hessen den Luftreinhalteplan so zu ändern, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des Immissionsgrenzwertes für NO2 gemäß 39. BImSchV einhält. Die schwarz-grüne Regierung Hessens versagte.
Am 30. Juni 2015 erklärte sich das VG Wiesbaden abermals, dass finanzielle oder wirtschaftliche Aspekte nicht gelten würden um von Maßnahmen zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte abzusehen. Luftreinhaltepläne müssen demnach alle Maßnahmen enthalten, die geeignet sind die Grenzwerte so schnell wie möglich einzuhalten (AZ.: 4 K 757/11.WI, 4 K 165/12.WI). Die Beteiligten ließen also ganze drei Jahre verstreichen ohne dass sie die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in Wiesbaden geschützt hätten.
Daher reichte die DUH am 19. November 2015 in Bezug zu NO2-Werten in Wiesbaden und mangelnden lokalen Maßnahmen der Luftreinhalteplanung ein Klageverfahren zur Festlegung von Vollstreckungsmaßnahmen ein. Die DUH beantragt beim VG Wiesbaden € 10.000 Zwangsgeld gegen Land Hessen. Hier gebe es seit Jahren rechtskräftige Urteile, die die zuständigen Behörden verpflichten würden bestehende Luftreinhaltepläne fortzuschreiben und Maßnahmen zu verankern, die so schnell wie möglich zur Einhaltung der Grenzwerte für NO2 führen. Die DUH argumentierte, trotz dieser Gerichtsentscheidungen würden bislang keine Maßnahmen beschlossen worden sein, die die Einhaltung der Grenzwerte zeitnah sicherstellen.
Mit „rechtskräftigen“ Urteilen meinte die DUH nicht nur die Beschlüsse des ebenselben VG Wiesbaden, sondern auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 25. Juli 2008, wonach der EuGH einem Anwohner der hochbelasteten Landshuter Allee in München Recht gab, dass er ein einklagbares Recht auf saubere Luft habe (AZ.: M 1 K 12.1046, Janecek-Fall). Am 19. November 2014 hatte derselbe Europäische Gerichtshof (EuGH) nachgelegt und die nationalen Gerichte verpflichtet gegenüber den zuständigen Behörden „jede erforderliche Maßnahme“ zu erlassen, wenn Luftqualitätsgrenzwerte überschritten werden.
45 vorzeitige Tote in Mainz und Wiesbaden seit 2014 = Maßnahmen waren doch ungeeignet
Seitdem sind abermals drei Jahre verstrichen, in denen in Mainz und Wiesbaden zusammen statistische 45 Menschen an schlechter Atemluft gestorben sind. Die von der LKR als „drohende“ Gesundheitsschäden wahrgenommenen Schäden sind de facto bereits stattfindende Gesundheitsschäden, – zu oft mit Todesfolge. Die Zahl 45 ist das Ergebnis einer von analogo.de errechneten Interpolation aus den EU-Daten, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte. Am 11. Oktober 2017 hatte die EU (Europäische Umweltagentur) veröffenlicht, dass die Zahl der vorzeitigen Todesfälle in Deutschland durch Dieselabgase um 20 Prozent gestiegen ist. Den Zahlen zufolge ist die Zeit für mittel- und langfristig geeignete Maßnahmen längst abgelaufen. 15 Tote pro Jahr kann man nicht so einfach „hinnehmen“.
Wie ein Dieselfahrverbot in Wiesbaden und Mainz ausgestaltet werden könnte, war Gegenstand unserer zweiten Frage an die Parteien. Die LKR hält das Wochentagmodell als konkrete Maßnahme für angemessen, da hier – wie wissenschaftlich erwiesen sei – in Wiesbaden die Stickstoffbelastung nachweislich sinken würde. Gleichzeitig würden die für manche Menschen problematischen Fahrverbote nicht „mit der Brechstange“ umgesetzt. Schließlich gäbe es unter dem Strich noch vier Tage, an denen das Auto im Stadtverkehr genutzt werden könne. Wie beim Sonntagsfahrverbot von 1973 stellt das Wochentagsmodell sicher, dass alle Autofahrer weiterhin in die Städte einfahren können.
Gab es ab 1973 ein Fahrverbot für alle, sieht das Wochentagmodell vor, dass an ungeraden Tagen (Montag, Mittwoch, Freitag) alle KFZ-Schilder mit ungeraden Zahlen in die Stadt einfahren dürfen. Und an geraden Tagen (Dienstag, Donnerstag, Samstag) alle KFZ-Schilder mit geraden Zahlen. Sonntags dürften alle fahren. Das Wochentagsmodell ist das sozialste aller Dieselfahrverbotsmodelle, da hierbei das große Heer der Menschen mit kleinem Geldbeutel nicht noch ärmer wird als es sowieso schon ist.
Simon Birkett, Gründer und Direktor von Clean Air London sagte letzte Woche richtigerweise gegenüber der BBC, es gäbe schlichtweg keine sauberen Diesel. Dieselfahrzeuge sind je nach Großstadt für rund 60 bis 75 Prozent aller NO2-Immissionen verantwortlich. Birkett vergleicht die Verbannung von Dieselfahrzeugen aus den Städten mit der Verbannung von Holz- und Kohleöfen seit den 60er Jahren. Selbst so ferne Städte wie Mexico City, Athen, Madrid oder Paris hätten die Verbannung von Dieselfahrzeugen aus den Städten (für einen bestimmten Zeitpunkt X) beschlossen. Sollen die Bürger von Wiesbaden und Mainz länger als anderswo unter den giftigen nitrosen Gasen leiden müssen?
Wie Bundeskanzlerin Merkel und Autokonzerne Dieselfahrer in Erpressungshaft nehmen
Für den gegenwärtigen Zeitpunkt Y würde die SPD Wiesbaden am liebsten ein Dieselfahrverbot abwenden. Die Verantwortung für die massiven Überschreitungen der Grenzwerte sieht die SPD nicht bei den Käufern der Dieselfahrzeuge, sondern einzig und alleine bei den Fahrzeugherstellern. Diese müssten als Sofortmaßnahme alle zugesagten Softwareupdates auf Kosten der Hersteller umsetzen und diejenigen Fahrzeuge nachrüsten, welche die vorgegebenen Normen überschreiten. Dies sei technisch leistbar und scheitere lediglich am Willen der Unternehmen.
Im Endeffekt ruft die kleine SPD Wiesbaden nach Berlin, wo ihre große SPD Bund noch vor wenigen Wochen in der Regierungsverantwortung stand und es nicht geschafft hatte in der Koalition effektive Maßnahmen zu beschließen. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) der SPD entledigen wollte, indem sie der Partei für die Legislatur ab 2017 kein Regierungsfähigkeit unterstellte. Hatte die SPD ein Wort für die getäuschten Dieselkäufer eingelegt und von Merkel ein echtes Machtwort gegenüber den Fahrzeugherstellern gefordert?
Während man in Wiesbaden und Mainz auf das echte Machtwort der Bundespolitik wartet, fährt die CDU-gesteuerte Bundesverkehrspolitik einen Konfrontationskurs gegen die Bürgerinnen und Bürger. Der Autozeitung zufolge droht das Kraftfahrtbundesamt aktuell allen vom Abgasskandal betroffenen VW-Dieselfahrzeuge mit Stilllegung, sofern sie nicht am VW-Rückruf teilgenommen haben (rund 780.000 Autos). Der Zeitung zufolge erfolgte die erste Stilllegung im Oktober 2017 im Kreis Euskirchen. Auch andere Fahrzeugmodelle dürften von der Drohung betroffen sein. Dabei geraten Dieselbesitzer in Erpressungshaft von Bundesregierung und Hersteller. Der Rechtsanwalt Ralf Stoll äußerte gegenüber FOCUS Online, solange die Geschädigten Ansprüche gegen VW geltend machen wollen, sei die Stilllegung rechtswidrig. Wenn die KFZ-Zulassungsstelle Dieselfahrer verpflichte das Softwareupdate aufspielen zu lassen, würde es dem Geschädigten nahezu unmöglich gemacht, erfolgreich gegen den Händler und gegen VW vorzugehen, so Stoll.
Die kleinen Maßnahmen
Während sich die SPD weiterhin an den Kurzfristmaßnahmen-Strohhalm von im Zweifel illegalen und uneffektiven Softwareupdates klammert, greift die Partei die Hessische Landesregierung an. Doch endlich solle das Land das beantragte LKW-Durchfahrtsverbot umsetzen. Die Stadt wird von LKWs durchfahren, die auf der Achse Norddeutschland/Süddeutschland die Autobahn A3 verlassen, um sich durch die Fahrt über die fast parallel laufende Bundes- bzw. Landstraße via Wiesbaden erhebliche Maut-Zahlungen zu ersparen. Da LKWs den kleineren Anteil an der NO2-Belastung hervorrufen, wäre dies eine Maßnahme der eher geringer effektiven Ausprägung.
Auch die Fraktionssprecherin der Wiesbadener Parteienkooperation LINKE & Piraten, Evelyn Zell schreibt analogo.de ihre Fraktion fordere, dass das bereits beschlossene LKW-Durchfahrtverbot endlich umgesetzt werden müsse. Ansonsten hat der Parteienverbund eher langfristige Vorschläge zu bieten wie den Bau einer City-Bahn oder die Verbesserung des Radwegenetzes. Der Sprecher der AfD teilte uns schließlich mit, die Partei schlage eine chemische Reduzierung der Stickstoffoxidkonzentrationen durch Titandioxid vor. Die Vorschläge seien aber im Umweltausschuss per Geschäftsordnungsantrag „durch Aussprache für erledigt erklärt“ worden. Ob die relativ teuren Titandioxidkonstruktionen tatsächlich die erheblich über den Grenzwerten liegenden Stickstoffoxidkonzentrationen stadtweit um mehr als 20 Prozent reduzieren können, muss bezweifelt werden.
Die Wiesbadener Partei Bündnis90/Die Grünen hält sich zum Thema übrigens galant zurück. Kein Wunder, denn die zuständige Ministerin im stark kritisierten Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Priska Hinz ist eine Grüne. Wie schließlich die CDU auf unsere Anfrage reagiert hat, kann man sich vorstellen – angesichts ihrer politischen Hauptschuld auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene in Bezug auf schlechte Luftqualität: Genau wie ihre Koalitionspartner von Bündnis90/Die Grünen halten sie die Füße still.
Welche Gedanken derweil die Parteien des Mainzer Stadtrates angesichts der Verbannung von Dieselfahrzeugen treibt, ist Gegenstand unseren Folgebeitrags. Lies hier, wie zum Beispiel die Mainzer FDP und FWG zum Thema Stellung nehmen.