Kiel | analogo.de – Deutschland muss bis zum 17. Dezember 2021 die EU-Whistleblowerschutzrichtlinie in ein deutsches Gesetz umgewandelt haben. So will es die Europäische Union. Auf die Unternehmen kommt ein Kulturwandel zu, denn Hinweisgebern in Unternehmen wird zukünftig frei stehen, ob sie sich bei schweren Verfehlungen an Meldekanäle innerhalb der Firma, an externe Stellen oder sich eventuell sogar direkt an die Öffentlichkeit wenden.
analogo.de hat sich bei den 100 größten Arbeitgebern in Schleswig-Holstein umgehört. Wir sprachen mit Pressevertretern, Betriebs- und Personalräten, Gleichstellungsbeauftragten und betroffenen Mitarbeitern. Verfolgen Sie die Reportage in mehreren Abschnitten über so unterschiedliche Arbeitgeber wie die Schwartauer Werke, die Bundespolizeiakademie, die Sparkasse Westholstein, die Christian-Albrechts-Universität (CAU), McDonald’s oder die Stadtwerke Kiel. Der große ANA LOGO Report.
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Im Frühjahr diesen Jahres haben die Unionsvertreter im Bundeskabinett den Gesetzentwurf des SPD-geführten Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) zurückgewiesen. Tatsächlich könnte aber unter einer rot-grünen Führung nach den Bundestagswahlen das Gesetz zeitnah verabschiedet werden. Unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahlen könnten die Regelungen des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG) für die größten 100 Unternehmen Schleswig-Holsteins bereits ab 01. Januar 2022 gelten.
Zwar ist die EU-Richtlinie darauf beschränkt, Whistleblower zu schützen, die auf Verstöße gegen geltende europäische Gesetze hinweisen, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht folgt mit ihrem Gesetzentwurf aber weitgehend internationalen Empfehlungen, das Gesetz auch für Straftaten nach deutschem Recht anzuwenden. So hat das Land Dänemark nun sein Hinweisgeberschutzgesetz verabschiedet, und dieses auf den „materiellen Anwendungsbereich“ der Richtlinie ausgeweitet.
Dort steht nun beides unter Schutz: Meldungen über Verstöße gegen nationales Recht und schweres Fehlverhalten wie Bestechung und Korruption sowie Beschwerden über sexuelle Belästigung. Dänemark verwirklicht damit, was Frau Lambrecht aufgriff, dass nämlich nicht nur derjenige Whistleblower geschützt ist, der etwa ein Datenleck meldet, sondern auch alle diejenigen, die Schmiergeldzahlungen, sexuelle Übergriffe oder Menschenhandel aufdecken. So berichtete unter anderem die Süddeutsche Zeitung.
Obwohl Compliance-Systeme in vielen Unternehmen seit längerer Zeit etabliert sind, sind Unternehmen mit der Vorgabe konfrontiert, dass sich Whistleblower optional direkt an externe Stellen wenden können. Die EU spricht von kulturellen Veränderungen, die man herbeiführen möchte. Firmen wie Bosch gehen auf Konfrontation zu ihren Mitarbeitern, stellen ihn gar frei, sich im Zweifel einen Anwalt zu nehmen. Insgesamt wird Compliance und Whistleblowing für gesunde Unternehmen aber positiv gesehen. Stichworte hierzu sind Innovationskraft und Profitabilität, im Finanzensinne ESG und Nachhaltigkeit.
Diese Fragen stellten wir den TOP 100:
1. Steht Ihr Unternehmen/Ihre Behörde in den Startlöchern, als dass Sie bereits interne Meldestellen eingerichtet haben? Wie weit sind Ihre Vorbereitungen bzgl. des Hinweisgeberschutzgesetzes gediegen?
2. Wie steht Ihr Unternehmen zu der Tatsache, dass Whistleblowing einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft einnehmen wird und wie wandeln Sie Ihre Vision in Maßnahmen um?
Die Ergebnisse dieser Reportage sind relativ divers. Mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen von Branche zu Branche und selbst innerhalb von Unternehmensteilen ist es schwer, Chancen und Risiken eines effektiven Whistleblowerschutzes zu beleuchten. Müssen Mitarbeiterinnen etwa der Commerzbank mehr Repressalien befürchten als etwa Mitarbeiterinnen der Sparkasse Westholstein?
Ein großer Teil der Firmen hat von Whistleblowerschutz keine Idee, kennt kaum das Wort Whistleblower oder redet die Schutzbedürfnisse der Mitarbeiter klein. Es gibt aber auch ermunternde Beispiele. Zum Beispiel scheinen die Stadtwerke Kiel ein wegweisendes Meldesystem eingerichtet zu haben, welches den Mitarbeiterschutz nach ganz vorne stellt. Die Deutsche Bahn schreibt analogo.de aus der Konzernzentrale in Berlin, ihr Hinweismanagementsystem setze bereits jetzt schon die Vorgaben der EU-Richtlinie zum Whistleblowing um.
Dennoch mahnen die Ergebnisse zur Vorsicht. Nur allzu viele Unternehmen zeigten sich angesichts unserer Befragung trotzig oder negierten die Anfrage komplett, als ob Hinweise von Mitarbeitern eine Bedrohung für den Unternehmenserfolg sind. Näheres Hinschauen und vertiefende Gespräche mit Betriebs- oder Personalräten geben Hinweise darauf, warum die offizielle Antwort so knapp ausfiel. Tatsächlich scheinen in vielen Unternehmen Mitarbeiter, die in ihrem Unternehmen auf grobes Unrecht treffen, gut beraten, sich direkt einen Anwalt zu nehmen, und ihren Hinweis nur unter rechtlicher Betreuung offenzulegen.
Als Richtmaß für die Ermittlung der Unternehmensgröße diente die im Internet abrufbare Aufstellung der Firma Innofact AG für die Stadtwerke Flensburg mit den Beschäftigten- und Umsatzzahlen aus dem Jahre 2017. Demnach hatte das Universitätsklinikum Schleswig‐Holstein (UKSH) mit 13.594 Mitarbeitern die meisten Beschäftigten. Auf den Plätzen folgen die Bartels‐Langness Handelsgesellschaft mbH & Co. KG, die AOK Schleswig‐Holstein, die Jungheinrich AG und die Deutsche Post AG, allesamt mit 7.000 oder mehr Mitarbeitern. Der Kieler Kriegsschiffbauer ThyssenKrupp Marine Systems GmbH beschäftigt 6.000 Mitarbeiter, die schon bald stärker geschützt werden müssen, wenn sie Verfehlungen melden.
Ab Teil 2 der Reportage gehts an die Details. Lesen Sie im zweiten Teil über so unterschiedliche Arbeitgeber in der Landeshauptstadt Kiel wie das Kieler Amtsgericht, das Städtische Krankenhaus oder die Stadtwerke Kiel.