Simon Boccanegra in der Wiener Staatsoper – Über Tochter-Vater-Beziehungen, Russinnen in der Oper und die große Politik

Wien | analogo.de – In unserer Serie „Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern in Zentraleuropa“ steht heute ein Besuch der Wiener Staatsoper auf dem Programm. Die Oper des Abends: Simon Boccanegra, ein feuriger Vaterlands-Epos über den mittelalterlichen Bruderzwist der Städte Genua und Venedig, über zwei Tochter-Vater-Beziehungen und anachronistische Politikavancen des Komponisten Guiseppe Verdi. analogo.de war beim Opernereignis zugegen und berichtet im ANA LOGO Long Read.

Lesezeit: 13 Minuten

Wer sich auf eine Entdeckungsreise zur Klassischen Musik in großartige Konzert- und Opernhäuser in Zentraleuropa begibt, gelangt irgendwann unweigerlich ins Mekka der klassischen Musik – nach Wien. Die heilige Stätte der klassischen Musik Wiens ist die Staatsoper, in der wir eine der berührendsten und schönsten Opern Guiseppe Verdis hören. Simon Boccanegra ist ein Korsar, den das Volk zum Dogen von Genua erküren möchte. Boccanegra will das gar nicht, als er aber merkt, dass der Patrizier Fiesco ihm seine Tochter Maria, die er liebt, nicht mehr vorenthalten kann, lässt er sich wählen.

Boccanegra ist eine historische Figur, die Mitte des 14. Jahrhunderts tatsächlich lebte. Er war der erste Doge Genuas. Giorgio Strehler beschreibt ihn als „Drama eines Mannes, der außergewöhnlich gut, menschlich und zärtlich ist und ständig mit den Problemen der Gerechtigkeit ringt“. Laut Strehler ist er „im eisernen Griff der politischen Situation gefangen und versucht, eine Idee von grundlegender Bedeutung durchzusetzen: Die politische Einheit Italiens.“

In der Loge vor uns sitzen drei Russinnen. Sie kamen spät, die Vorstellung hatte bereits begonnen. Sie schoben sich an Luis und Claudia vorbei, unseren Logennachbarn aus Mexiko in der dritten Logenreihe. Kein Gruß, keine Entschuldigung, keine Geste. Die Russinnen im feinen Edelkostümchen werden im Laufe der Veranstaltung sehr ergriffen sein von dem, was sie sehen und hören. Luis und Claudia sehen kaum die Bühne. Obwohl die Plätze gutes Geld kosten, müssen sie sich hinstellen und sehen dennoch kaum die Bühne.

Heute abend gehts um das Vaterland und um Tochter-Vater-Beziehungen. In so gut wie allen der 28 Opern Verdis spielen Vater-Kind-Beziehungen eine entscheidende Rolle. Angefangen in seiner ersten Oper Oberto, im Rigoletto, in La Traviata, in der Macht des Schicksals, in Luisa Miller und natürlich Aida, wo Vater Amonasro seiner Tochter Aida bedeutet, sie möge die Liebe zu Radamès aufgeben – aus patriotischen Gründen. Wie unterscheiden sich persönliche Liebe und Liebe zur Volksgemeinschaft?

Wenn es politisch emotional wird, werden die Russinnen zur Decke schauen, seufzen und eine Explosion nur mühsam unterdrücken können. Sie werden die Fotografierverbote leichthändig in den Wind schlagen und heimlich blitzlichtunterstützte Bilder mit ihrem Smartphone schießen. Schließlich ist Krieg in Russland, was bedeutet da schon eine Fotografieretiquette in Wien? Am Ende werden sie die Loge verlassen, wie sie gekommen waren, weder die Mexikaner noch die Deutschen verabschieden.

Es wird ein dramatischer Opernabend an der Staatsoper, an diesem 06. April 2024. Einer der zwei Stars des Abends die Sopranistin Federica Lombardi. Sie singt die Amelia, eine der schweren Sopran-Rollen im Opernzirkus. Lombardi kennt die Amelia von ihren Simon Boccanegra-Aufführungen in Amsterdam und Lüttich. Für Lombardi ist es eine Bewährungsprobe, für das Repertoirehaus der Wiener Staatsoper die 95. Aufführung in dieser Inszenierung aus dem Jahre 2002. Sonst singt Lombardi gerne und gut Belcanto-Rollen von Mozart. Doch ihre Gesangstechnik kann Verdis Amelia stemmen.

Der andere verzaubernde Star des Abends der Bariton George Petean, der den Dogen Boccanegra spielt. Eine gefühlte Ewigkeit verzauberte Plácido Domingo das qualitätsverwöhnte Wiener Opernpublikum in der Rolle des Boccanegra. Die Latten liegen also hoch. Aber mit dem Rumänen Petean kommt ein Simon Boccanegra-Kenner und Könner.

Die Latten liegen hoch in der edlen Wiener Staatsoper. Ja die Latten scheinen aus Stein gemeißelt zu sein. Innenansicht der Staatsoper. Bildrechte: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn

In Opern singen Baritone oft die Rolle des Bösewichtes. Baritone haben etwas Unergründliches, wirken oft nicht so expressiv wie die helleren Tenöre. Jim Morrison war ein Bariton, Leonard Cohen ebenso, Tom Jones, Frank Sinatra, Neil Diamond, Heino, Elvis Presley und Johnny Cash, alles Baritone. Laut Wikipedia betonte Verdi die oberste Quinte der Baritonstimme und nicht die tieferen Töne, was zu einem brillanteren Klang führe, dem Verdi-Bariton. Und so ist Boccanegra auch kein Bösewicht. Aber er hat die Macht inne.

Da selbst die Mächtigen den Konventionen ihrer Zeit erliegen, beißt sich auch Boccanegra die Zähne an ihnen aus. Das ist purer Verdi-Opern-Tobacco: An strengen gesellschaftlichen Zwängen scheiternde Menschen, die einfach nicht ihr Glück finden wollen. Weil er mit seiner Geliebten Maria ein uneheliches Kind hat, schließt Marias Vater seine Tochter weg. Irgendwie verschwindet das uneheliche Kind und wächst als Waise bei der wohlhabenden Familie Grimaldi auf. Über zwanzig Jahre später besucht Boccanegra durch Zufall diese Familie, weil er Amelia als Gattin für seinen Politikfreund Paolo gewinnen will.

Das mit Paolo hat sich erledigt, als Boccanegra merkt, dass Amelia seine verschwundene Tochter ist. Figlia!, ruft Boccanegra dabei ganz emotional und von zwarten Harfenklängen begleitet.

Der gehörnte Paolo ist böse, strickt Verschwörungen, hetzt Marias Vater Fiesco und Amelias wahren Liebhaber Gabriele zum Mord am Dogen auf, organisiert einen Aufstand der wohlhabenden Patrizier gegen den Dogen, will Amelia entführen lassen und vergiftet am Ende den Politikfreund. Wie oft stellen sich nicht die eigenen Parteigenossen als die größten Feinde heraus?

Wie in Opern üblich, gibt es reichlich Tote. Boccanegra stirbt, Amelias Liebhaber Gabriele tötet Lorenzo, den Entführer seiner Amelia. Marias Vater Fiesco tötet seine Tochter, indem er sie so lange vor Boccanegra wegschließt, dass Maria einfach sterben muss (bevor Boccanegra sie wiedersehen kann). Paolo animiert den mordenden Liebhaber Gabriele außerdem zum Mord am Dogen. Amelia hält ihn zurück und dennoch gibt der eifersüchtige Gabriele fremdschämend vor, er habe den Dogen vergiftet. Am Ende stirbt dann noch der zum Tode verurteilte Gehörnte,  Paolo. Die Sterbenden singen. Was ein Theater. 

Fiesco war ja nicht wirklich nett, zudem er am Anfang das Kindchen Amelia einforderte, damit Boccanegra seine Tochter Maria sehen darf. Und doch zeigt sich Boccanegra Fiesco gegenüber edelmütig. Freiheit ist Boccanegra ein echtes Anliegen. Als dann Volk und Stadtrat über Krieg gegen Venedig beraten, wirbt Boccanegra für Frieden, damit das Vaterland nicht noch mehr durch einen städtischen Bruderzwist zersägt wird. Da soll mal einer sagen, im Mittelalter gabs nur Wilde.

Die Idee des Vaterlandes war gleichwohl eine stilbildende dramaturgische Zuspitzung des 19. Jahrhunderts, als die Bildung von Nationen so richtig Fahrt aufnahm, vor allem in Italien und Deutschland. Jahrhundertelang hatte man sich in Europa bekriegt, endlich die Monarchien niedergerungen, und nun sollte es die Nation richten, so dass es den Menschen besser gehe. Verdi war ein Anhänger des vereinigten italienischen Staates zu einem einzigen Land.

Wie der Rebell und Freiheitskämpfer Richard Wagner war Guiseppe Verdi ein gesellschaftswirksamer Komponist. Und wie yuch Wagner war Verdi jemand, der gegen das bestehende System und die Terrorherrschaft der Obrigkeit kämpfte. Gut vorstellbar, wie Verdi heute von Zeitungen wie der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (shz) als Querdenker oder gar Verschwörungstheoretiker denunziert würde.

Heute sind Demokratieverächter gemiedene Außenseiter. Im Mittelalter des 14. Jahrhunderts und selbst noch im 19. Jahrhundert waren Monarchieverächter gemiedene Außenseiter, Revolutionäre bzw. Querdenker. Verdi stellte sich zwar gegen die fremdbestimmende Habsburgermonarchie, unterstützte aber die Monarchie des Turiner Adelshauses Savoyen.

Und ebenso wie heute Regierungen und Mainstreammedien Außenseiter, Revolutionäre oder Querdenker versuchen kleinzuhalten, zensieren sie ebenjene Gruppen. Wie im Deutschland der letzten zwanzig Jahre stark ausufernd, war auch Verdi im 19. Jahrhundert – über seine 60-jährige Schaffensperiode hinweg – der Zensur ausgesetzt. So bei seinen Opern ‚Die sizilianische Vesper‘, ‚Ein Maskenball‘ und eben auch Simon Boccanegra.

Der Ruhm Verdis beim italienischen Volk ruht stark auf der Tatsache, dass Verdi gegen die aus dem fernen Wien regierenden Habsburger war. Dem neuen italienischen König sagte Verdi einmal: „Io son un paesano“, ich bin ein Dorfbewohner. Wie bescheiden von Verdi, war er doch in Italien bekannter als der König. Am Ende seine Lebens war Verdi italienischer Nationalheld. Verdi wollte immer für die Massen schreiben, womit er sicher nicht die Leute meinte, die nach der Opernvorstellung 100-seitige Programmhefte lesen, um die Inszenierung zu verstehen. Das Programmheft heute abend umfasst 96 Seiten.

Wenn die Worte aufhören, beginnt die Musik, sagte Heinrich Heine. Hier ist es umgekehrt: Wenn die Musik aufhört, beginnen die Worte. Ein Opernbesuch in Wien und München gerät schnell zur großen Verkopfung der Musik. Igor Strawinsky sagte einmal, in seinem ganzen Leben habe er keinen einzigen Takt von Musik verstanden, aber er habe sie gefühlt.

Für uns Zeit, zu den Emotionen und somit endlich zur eigentlichen Opernvorstellung zu kommen.

In der heutigen Rezension unsere assoziativen Erlebnisschnipsel in chronologischer Reihenfolge. Wir verfolgen den Text parallel an einem kleinen Logenbildschirm, und wählen die Übersetzung der Bühnensprache von Italienisch nach Deutsch.

Los gehts:

1. Der gequälte Geist des untröstlichen Vaters Fiesco, als seine Tochter dabei ist, durch seine Gefangenschaft zu sterben. Für mein gebrochenes Vaterherz! Der sükoreanische Simon Boccanegra-Kenner und Könner Kwangchul Youn überzeugt wie gewohnt im Bassregister.

2. Miserere, Gnade, Erbarmen. Wie ausgespuckt aus einer Quelle ursprünglichen Wassers, schreiten gewandete Figuren des Opernchores mit lichternen Kerzen durchs Tor, besingen den tragischen Tod der Maria. Tragisch, weil sie von Boccanegra geliebt und von ihrem Vater getötet wurde.

3. Boccanegra, just im Todesmoment seiner geliebten Maria zum Dogen erkoren, fühlt eine Ehrverpflichtung: Ich hoffe, mich ihrer durch Ruhm zu beweisen. George Petean hilft heute abend aus, und es macht gleich Freude. Eigentlich sollte jemand anders singen.

4. Der Geliebte, also Boccanegra und der Mörder und Vater der Geliebten, also Fiesco, streiten sich. Fiesco meint: Frieden wird’s geben, wenn einer von uns lässt sein Leben! Welch ein Pathos, nur um die Ehre der Tochter wiederherzustellen. Da lebt Maria aber noch. Später erleben wir dasselbe mit dem Vaterlandsthema. Das Vaterland können wir nur über den Tod, über das Vergießen von Blut erschaffen. Jahrhundertealte Glaubenssätze, die ins Unglück stürzen. Und immer wieder zeigen Väter Reue, erkennen ihre Fehler aber zu spät, um sie zu korrigieren.

George Petean und Kwangchul Youn in Oper Simon Boccanegra. Bildrechte: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn

5. Fiesco soll Zugang zu seiner Enkelin bekommen, also dem Kleinkind von Boccanegra und Maria. Aber das Kind ist nicht aufzufinden. Boccanegra an Fiesco: Drei Tage sucht ich sie vergebens, dann verschwand sie. Harfenmusik.

6. Fiesco nimmt das Versöhnungsangebot Boccanegras nicht an: Ich will durch Liebe dich bald versöhnen! Nein!

7. Echo der Hölle.

8. Das Volk singt: Es lebe der vom Volk gewählte Simon. Tragt ihn auf Händen. Das muss man sich mal vorstellen. Boccanegra ist ein Mann des armen Volkes, zudem ein Korsar. Und dann dieser Hauch von Demokratie. Durch das Stilmittel des Opernchors macht Verdi die Demokratie aber wirklich schmackhaft.

9. Federica Lombardi tritt in Erscheinung. Dieses silberne Kleid und die warme Stimme … der mir jeden Tag die Tränen abwischt … seelenvoll interpretierte Arie. Lombardi erhält Einzelapplaus.

10. Eine leere Bühne mit einer weißlichternen Plattenwand, hmm. Weniger geht wohl immer.

11. Jetzt Gabriele und Amelia im Duett. Die italienische Federica Lombardi insgesamt kraftvoller als der englisch-italienische Freddie de Tommaso. De Tommaso im Forte kaum zu hören, im Gegensatz zum anderen Mann auf der Bühne, dem südkoreanischen Youn weniger timbriert und überzeugend.

12. Das Duett zwischen dem Tenor Fiesco und dem Bass Gabriele.

13. Die Grimaldis haben Amelia aufgezogen und weigern sich, die Knie zu beugen. Im wahren Leben flüchteten sie nach einem Machtkampf aus Genua nach Monaco, wo sie noch heute leben, ja residieren. Albert von Monaco ist gegenwärtiger Staatschef des Grimaldi-Clans von Monaco.

14. Amelia tritt in Erscheinung, diesmal im grüngelb schimmernden Kleid. Das Kleid macht die Bühne.

15. Amelia im Duett mit ihrem Vater, den sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht als solchen erkennt. Amelia sagt dem Dogen, sie sei ja gar kein Grimaldi. Und versucht, ihre Herkunft über Kindheitserinnerungen zu rekapitulieren, meiner Kindheit schöne Jahre, nur das Echo antwortete mir.

George Petean und Federica Lombardi in Oper Simon Boccanegra. Bildrechte: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn

16. Amelia und ihr richtiger Vater, laut Lombardi eines der allerschönsten Opernduett überhaupt. Petean und Lombardi überzeugend und stimmlich gleichwertig.

17. Es droht Ärger, der gehörnte Paolo will Amelia entführen lassen. Sein Kumpel Pietro wills tun. Gut, sie soll entführt werden. Ich werde es tun, singt Clemens Unterreiner, diesmal ein Bariton, der auch der Böse ist.

18. Mitten im ersten Akt eine minutenlange Verwandlung. Der Umbau ist langweilig: „Das Bühnenbild ist doch sowieso schon so einfach, warum brauchen die da so lange?“

19. Der Stadtrat tagt im Palazzo. Die Ratsherren wollen Krieg gegen Venedig. Sie haben Krieg gerufen. Tut das Strack-Zimmermann (FDP) heute, hat das Sahra Wagenknechts BSW ein Problem damit. Was hat sich seit dem 14. Jahrhundert weiterentwickelt?

20. Das Volk will den Patriziern an den Kragen und den Tod des Dogen. Die Palastwache zückt die Schwerter. Boccanegra, selbstsicher durch sein friedliches Ansinnen: Schwerter weg, öffnet die Tore, ich fürchte nicht mein Volk. Anders ein Robert Habeck, der sein Volk verfolgt.

21. George Petean mit einem in gelber Seide gestickten Tartarenkopfschmuck, exotisches Mittelalter-Europa. Welche Rolle spielen denn Tartaren heute noch?

22. Wild gewordenes Volk, Waffen und Plünderung, Brand in die Häuser, Tod dem Dogen, an den Galgen.

23. Boccanegra beruhigt des Volkes Zorn mit ergreifenden Worte. Brudermörder, Plebejer, Patrizier, Narrenvolk, wühlend im eigenen Fleische, Ihr Erben all des Hasses, …, ich rufe flehend: Frieden! Und ruf Euch zu: Liebe!

24. Amelia besänftigt mit impressionanter Koloratur an Ihren Großvater und Muttermörder Fiesco: Friede! Der Rache blinde Wut. Sei nun von uns gebannt. Beseele dich Liebe zu deinem Vaterland! Patria!

25. Die Russin vor uns schaut zum Himmel. Hat sie gerade an den Bruderzwist von Russen und Ukrainern gedacht?

26. Auf der Bühne das Volk auf der linken Seite, in der Mitte dominieren die Töne rot und grün, ganz rechts changiert es ins Orangene.

27. Gabriele wird gewahr, dass Boccanegra seiner Amelia gar nicht an die Wäsche will – bietet Boccanegra sein Schwert gegen den Verschwörer Paolo an. Doch Boccanegra ist einfach ein Guter: Behalte dein Schwert.

28. Boccanegra verflucht seinen Verschwörer Paolo, und bekundet ihm, er solle den Verschwörer verfluchen. Boccanegra tut also so, als ob er nicht sicher ist, dass sein Kanzler bzw. Politikfreund der Verschwörer gegen ihn ist: Boccanegra gibt ganz den Volksvertreter: Du verkörperst das strenge Recht unseres Volkes, in diesen Mauern ist ein Verbrecher. Eine magische Oboe erklingt.

29. Eben noch aufgestacheltes Meuchelmördervolk, wechselt das Volk nun die Seite. Jetzt hat auch es verstanden, wer der Böse ist. Der Opernchor singt: Er soll verflucht sein! Dieser Teil der Oper sooo dramatisch. Für Federica Lombardi gehört dieses Finale des ersten Aktes zum Allerschönsten überhaupt.

Am Ende wird immer gemacht, was das Volk unterstützt. Szene aus Simon Boccanegra mit dem Basso Kwangchul Youn als Fiesco und dem das Volk verkörpernden Ensemble-Opernchor. Bildrechte: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn

30. Die Russin macht wieder Smartphonebilder, der Blitz nimmt die Stimmung. Die Oper in Regensburg, genauer das Historische Theater am Bismarckplatz, hat ein Gegenmittel gegen solche sich den Fotografierverboten widersetzenden Smartphoneblitzer gefunden. Eine Woche später beim Schwätzchen mit einem Regensburger Service-Mitarbeiter in der Pause. Der Mann erläutert das Whistleblowersystem im Theater Regensburg am Bismarckplatz: Wenn die „Darsteller“ auf der Bühne sehen, dass ein Gast während der Vorstellung ein Smartphonebild schießt, geben sie dem Bühnenpersonal einen Hinweis (sobald sie von der Bühne hinter die Kulisse zurückkehren). Zum Beispiel an einen Bühnentechniker, der die Information sofort an einen Aufpasser weitergibt, der sich oben bei den Logen aufhält, daraufhin in die Loge geht und den Gast ermahnt. Würde die Staatsoper Wien mit solch einem System ihre internationalen Gäste vergraulen?

31. Der zweite Akt beginnt, das Vorspiel knapp, tata.

32. In der Loge gibt es kleine Bildschirme, auf denen man die Gesangstexte übersetzt nachlesen kann. Gut ist, dass man unter sechs Sprachen wählen kann. Schlecht, dass die Übersetzung jetzt ausfällt. Es ist das erste Mal von vier Malen. Im schönen Opernhaus von Ostrava war das nicht passiert. Die Vorstellung wurde auf Tschechisch vorgetragen, links und rechts der Bühne großzügig und unaufdringlich zwei Bildschirme, die die englische Übersetzung des Librettos anzeigen. Einfache Technik mit gutem Ergebnis. Kleine Opernhäuser haben viele Vorteile.

33. Federica Lombardi ist wieder der farbliche Klecks auf der Bühne, diesmal im roten Kleid. Amelia hat es aber auch nicht einfach: Alle anderen Darsteller heute abend sind Männer. Ist die Oper auch deswegen so „dunkel“?

34. Amelia im Duett mit ihrem Lover und angehenden Attentäter ihres Vaters, Gabriele. Gabriele ist verzweifelt: Gib mir das Leben oder einen Sarg.

35. Amelia legt beim Dogen Boccanegra ein gutes Wort für ihn ein. Auch Boccanegra ist verzweifelt, weil seine Tochter nicht mehr leben will, wenn der Vater gegenüber ihrem Liebhaber das Recht einfordert: Meine Tochter gefunden, und an meinen Feind verloren, welch grausames Schicksal. Welchen Mehrwert hat Rache? Wer denkt gerade nicht an Israel und Palästinenser? Wer denkt heute abend nicht an Russen und Ukrainer?

36. Wofür geben sich Völker, Nationen und Staaten Gesetze? Boccanegra kontempliert: Allzuviel Gnade entwertet die Strafe. Doch dann trinkt er einen Schluck Wasser aus seinem Becher, welchs Paolo, der große Verräter dieser Oper, vorher vergiftete. Sogar das Wasser schmeckt den Lippen eines Herrschers bitter. Geht es trauriger? Wohl kaum.

37. Durchkomponierter Sprechgesang, wenig Arien, bei denen man an den Lippen der Sänger hängt. Dennoch: Sopranistin Federica Lombardi bringt es auf den Punkt: Ein Oper, bei der man in jedem Augenlick einfach nur zuhören möchte.

38. Gabriele erfährt erst jetzt, dass der Mann, den er gerade erdolchen will, der Vater seiner Geliebten ist. Gabriele bittet Amelia um Verzeihung. Soll auch Boccanegra verzeihen? Darf ich ihn retten, darf ich verzeihen, darf ich dem Feind die Hand reichen? Boccanegra entscheidet sich – mal wieder – für Frieden: Frieden strahle auf Genua, der alte Hass soll weichen, mein Grab soll der Altar für den Frieden von Italien sein. So baut man Nationen. Nicht auf Hass und Krieg basierend, sondern auf Friede.

39. Doch das Volk will zu den Waffen, fürs Vaterland. Zum Kampf, zum Kampf, uns ruft die heilige Sache. Wer hat ihnen denn diesen Wurm eingepflanzt? Ziehen Völker in Kriege, weil sie das so wollen, oder weil ihre Führer ihnen das vorgeben? Bei der deutschen Bundestagswahl 2025 erzielen CDU und SPD 50 Prozent aller Stimmen, obwohl jedem Wähler klar ist, dass CDU/SPD mit ihren Waffenexporten den Krieg Ukraine/USA/Großbritannien/Deutschland vs. Russland anheizen. Eine Hälfte des deutschen Volkes scheint wahrhaftig den Krieg zu wünschen qua herbeizuwählen. Die Russin in der Mitte vor uns jedenfalls versteht es nicht, was das Volk da macht: Über ihrem Haupt scheinen kleine Fragezeichen zu schweben.

40. Der jetzige Szenenumbau dauert wieder laaaange.

41. Der Verräter Paolo kommt nochmal in Szene: Boccanegra hat mich verurteilt, aber vorher habe ich ihn zum Tode verdammt.

42. Jetzt besingt selbst das Volk Liebe und Frieden in unserem Land. Warum berichten Medien nicht öfter über die friedliebende Hälfte des Volkes?

43. Auf der Bühne eine echte Flammenprozession, eindrucksvoll.

44. Viele Trompeten, heroische Vaterlandsklänge, Verdi wie er leibt und lebt. Kann man ein Vaterland auch ohne eine marschierende Soldateska verteidigen?

45. Boccanegra machts nicht mehr lange. Einer giftigen Schlange gleich fließt Feuer durch meine Adern.

46. Bei so viel Feuer, was könnte da mehr helfen als kühlendes Wasser? Im Hintergrund der Bühne nun ein kühles Meeres-Pastel. Eine Klarinette mit einem stimmungsvollen tita_tita_tita, dudidudidu, festliche Fackeln.

47. Fiesco, der Tochtermörder, versteht langsam und weint. Boccanegra: Du weinst ja! Stai piangendo, der Moment der lösenden Einsicht so baritonpianozart gesungen von George Petean, für uns der Höhepunkt des Abends.

48. Boccanegra liegt im Sterben, Fiesco versteht endlich aber zu spät, der Verschwörer Paolo ist verflucht, Amelia wuchs nicht als Amelia auf, bevor sie zu den Grimaldis kam, sondern als Maria, heißt genuaos wie ihre Mutter. Gabriele hasst Boccanegra nicht mehr und Amelia/Maria ist die anerkannte Tochter des Dogen. Also segnet Boccanegra Gabriele und Amelia. Himmlische Geigen des Orchesters der Wiener Staatsoper unter Leitung von Marco Armiliato.

49. Der Opernchor (also das Volk) erfasst die Szene: In diesem Leben ist alles Leid, von Gott uns so gegeben, die Natur hüllt sich in den Mantel der Schmerzen.

50. Die Übersetzungstechnik fällt zum vierten Male aus. Gerade jetzt. Wie ärgerlich !  Das Drama der Oper scheint selbst die Technik der Wiener Staatsoper ergriffen zu haben.

51. Die Bühnenaufstellung jetzt wie folgt: Das Volk wieder links in rot, in der Mitte dominiert jetzt nicht mehr rot, sondern das grün, und der rechte Rand so rot wie der linke. Der Vater ist tot. Verzweifelte Amelia im zitronengelben Kleid, welch ein Anblick. Die Tochter hat am Ende ihren Vater gefunden, der Liebhaber ist knapp der Strafe des Vaters entkommen, Amelia und ihr Liebhaber werde die neuen Chefs von Genua.

52. Das Volk hat das letzte Wort: Friede sei mit ihm. Als ob der Tod des Vaters da notwendige Opfer war, um Genua und seine Menschen auf den Pfad des Friedens zu bringen. So selbstlos sollten Politiker sein.

53. Umjubelter Applaus im ehrvollen Opernhaus der Wiener Staatsoper für einen ganz besonderen Opernabend.

Ehrvolles Opernhaus der Wiener Staatsoper am Herbert-von-Karajan-Platz. Bildrechte: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn