Schleswig | analogo.de – Genau wie im vergangenen Jahr veranstaltete das Schleswig-Holstein Musik Festival dieses Jahr wieder ein Wandelkonzert im herrschaftlichen Schleswiger Schloss Gottorf. Der letztjährige Sommercocktail aus Musik und Literatur des Komponisten Robert Schumann weckte große Erwartungen. Natürlich musste es mit den barocken Werken Johann Sebastian Bachs ein gänzlich anderes Konzertgefühl werden. Insgesamt unaufgeregter und intimer als emotional romantisch.
Der künstlerische Festivalplaner Frank Siebert wählte Stücke der getragenen Ruhe ohne Bachs Virtuosität an der Orgel oder die beliebte Opulenz seiner Chöre. Vorwiegend gereifte Persönlichkeiten folgten der zum großen Teil anspruchsvollen Musik eines Komponisten, vor dem viele hochkarätige Solisten Respekt verspüren. Der vor drei Jahren gestorbene Johann Nikolaus Graf de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt meinte einmal, Bach müsse unter einer Dusche von Eingebung gestanden haben. Was macht es wohl aus, als Musiker den Respekt solcher respektablen Musiker wie Nikolaus Harnoncourt zu erwecken? analogo.de berichtet vom Wandelkonzert und versucht dem Geiste Bachs nachzuspüren.
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Was Bach ausmacht, bringt an diesem Abend die russische Cellistin Anastasia Kobekina auf den Punkt. Von analogo.de im persönlichen Interview befragt, was ihr die Musik Johann Sebastian Bachs bedeute, den sie just so hingebungsvoll spielte, schwärmt der junge Musikprofi, Bach sei der genialste Komponist, weil er jede Interpretation aushalte. Was denn ihr Lieblingsstück sei, wollte analogo.de wissen. „Immer das Stück, welches ich gerade spiele.“
Ja, das merkte man. Die Ausnahmekünstlerin, die als Solistin mit Orchestern wie dem Konzerthausorchester Berlin oder den Wiener Sinfonikern spielte, saß hier ganz allein auf der Bühne und präsentierte zwei Cellosuiten auf emotional nachfühlende Weise. Ganz vertieft in das wunderbare Instrument entlockte sie ihm Klänge, die bestimmt auch Bach zu Tränen gerührt hätten.
Schwer und unregelmäßig atmet Kobekina die Musik, tief und voller Pathos. Die Augen geschlossen, gibt sie sich zwei der grandiosen Werke des Meisters hin. Siebzig Faszinierte sehen Anastasia Kobekina, und lauschen BWV 1008 in d-Moll und 1009 in C-Dur. Virtuos Kobekinas Gigue und Prélude im klaren Dur-Stück, schwer in der melancholischen Sarabande. Und alles spielt die erste Preisträgerin der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern auswendig.
Wie es denn kommt, dass man in einer asiatischen Stadt zum Violoncellospiel gelange, wollte analogo.de wissen (Kobekina stammt aus Jekaterinburg). Sieben professionelle Schulen für klassische Musik gebe es in Russland, fuhr es aus Kobekina heraus. Die Ausnahmekünstlerin spricht perfekt Deutsch. In Berlin studierte sie Musik. Schön zu hören, wie verwurzelt Johann Sebastian Bach in Asien ist. Wieder was gelernt.
Die Kunst der Fuge als Katalysator
Das Lernen mag einem nicht ausgehen, wenn man von der Kunst der Fuge spricht. Anspruchsvoll war es, um es mit den Worten Frank Sieberts zu sagen, nämlich um 19 Uhr noch die Kunst der Fuge draufzusetzen, nachdem das Konzert um 15 Uhr startete. Dieser Flash für den Geist wurde vom Schumann Quartett mit zwei Violinen, einer Viola und einem Cello präsentiert. Geradezu akademische Musik, die volle Aufmerksamkeit verlangt.
Wie kann man Bach und seine berühmteste Fugensammlung erklären? Vielleicht mit Farben, die sich nicht vermischen und doch nebeneinander bestehen und am Ende einen wunderbaren Regenbogen formen. Ein Zusammenspiel von Farben, von denen jede ihre ureigene Farbe behält und die doch zusammenkommen.
In der mit Gemälden gespickten Reithalle ist kein Hauch zu hören. 200 Bachionados warten gespannt auf das, was nicht ergreifbar ist: Die kristallklare Genialität der Kunst der Fuge. Brilliante Kunst, ein Grundthema in vielen verschiedenen Variationen zu spielen, ja geradezu physikalisch scharf nachvollziehbar abzugrenzen. Wiederkehrende aber leicht abgewandelte Musikfiguren sind en vogue. Veredelte Musikfiguren, die bei Ludovico Einaudi mit mehr Emotionalität daherkommen, und bei Bach mehr Strenge und Schönheit tragen; schlichte puritanische Schönheit. Das Puritanische erlebt im Deutschland des 21. Jahrhunderts eine Renaissance.
Bei allem, was war nun der erlebbare Unterschied zwischen den Contrapuncti Drei und Sieben? Zugegeben, erlebbar ist er kaum. Aber er ist zu verstehen. Was machen die sich so ähnelnden musikalischen Züge mit dem Zuhörer, wenn man sich bei dieser Musik – bei aller Chromatik – vor lauter Strenghaftigkeit kaum zu regen traut?
Ein Erklärungsversuch: Beim Abwenden vom strengen, visuell ja geradezu langweilig wirkenden Ensemble und Hinwenden zu den Gemälden an der Wand werden die Gemälde auf einmal klarer, schöner. Ist es das, was Mathematik und Musik mit uns machen? Ist es das, was das Schumann Quartett eigentlich ausmacht? Dieses Quartett der beherrschten Technik, der flotten harten Interpretation, welches sich so klein macht, wenn es sich auf die musikalischen Figuren konzentriert? Die Kunst der Fuge dieses Schumann Quartetts war wie ein Katalysator, der die stetigen Dinge des Lebens greifbarer macht.
Vielleicht kann man vom Barock nicht mehr erwarten als das. Höchst wahrscheinlich würde Johann Sebastian Bach als Komponist niedriger bewertet, hätte er nur die Stücke dieses langen Nachmittags komponiert. Wer die Matthäus-Passion, wer die Brandenburgischen Konzerte und wer das Weihnachtsoratorium kennt, und dann nach Schleswig kam, um Bach zu erleben, der erlebte einen Nischen-Bach und freute sich wohl, wie vielseitig dieser Mann war. Wer Bach heute zum ersten oder zweiten Mal hörte, der würde in Gefahr laufen, ihn nie mehr hören zu wollen. Doch kaum anzunehmen, dass an diesem Nachmittag Bach-Firsttimer zugegen waren. Genuin reduziert das Format „Bei Hofe“ intuitiv zu einem bescheidenen Kammermusikformat. Wenn dies die Maßstäbe waren, so lag durchaus Brillianz in den Vorführungen. Zum Beispiel beim weiblichen Blockflötenquartett Flautando Köln.
Moderne Elfen
Vier stolze Frauen schreiten durch die Zuschauer zur Bühne. Vier „moderne Elfen“. Und wahrlich, ihre Darbietung hat Kraft und Zartheit zugleich. Der kleine Hirschsaal wird mit dem Klang von Sopran-, Alt-, Tenor-, Bass-, Subbass- und Großbass-Flöten gefüllt. Es sind Variationen einer alten Zeit und mit etwas Fantasie werden die Hörer tatsächlich zu Teilnehmern bei Hofe.
Als eine der Musikerinnen anstatt der Blockflöte eine Art schwarzen Starenkasten vor sich stellt, geht ein Raunen durch den Saal. Es ist die Erfindung des zeitgenössischen Flötenbauers Herbert Paetzold. Ein sonorer Klang entweicht dem einer Orgelpfeife nachempfundenen Instrument. Harmonisch bassgebend umschmeichelt es die hellen Flöten. Vom Aussehen eher gewöhnungsbedürftig, vom Klang jedoch überzeugend. Vielleicht auch das typisch „Bach“.
Zum Besten geben die vier Künstlerinnen Bachs Orgelwerk Concerto d-Moll BWV 596, und sonst alles andere als Bach: Mozart, Mendelssohn, Telemann und Froberger. Dazu erfährt das Publikum Hintergründe der Stücke. Bei den 12 Mozartvariationen (KV 265) ist es der musikalische Ausdruck über die verschiedenen Kinderqualen, die zum Beispiel etwas anderes essen wollen als verlangt. Von Felix Mendelssohn flötet Flautando Köln ein venezianisches Gondellied mit der Ruhe einer alten Kutsche, die übers Land fährt.
Das Publikum begibt sich zum nächsten Musikereignis. Draussen warten zwei freundliche Damen mit rotem und weißem Regenschirm, um das Publikum in zwei Gruppen zu ihrer nächsten Veranstaltung zu geleiten. Es geht zu Capella Ostinato in der alten Schlosskapelle. Ihr Thema: Die bedingungslose Liebe als Hauptthema des Frühbarock. Die zwei ungarischen (Mezzo-) Sopranistinnen Lidwina Wurth und Zsuzsa Bereznai werden von den zwei deutschen Lautenspielern Ralph Lange und Ulf Dressler begleitet. Auf leisen Lauten im prunkvollen Kirchenambiente also Lieder der Liebe aus dem Frühbarock.
Eingeschränkt wird der Genuss der holden Liebe für die Zuhörer durch Komfortmängel: Die Kirchenbänke dürften eher für Büßer gemacht sein als für Genießer. Doch die dargebotene Musik lenkt von den Rückenschmerzen ab. „Willst Du Dein Herz mir schenken“ (BWV 518), zart und mit klarer Stimme gesungen. Töne zum Sterben beim bekanntesten Werk Gottfried Heinrich Stölzels „Bist Du bei mir“ (BWV 508), als die ausdrucksstarke Sopranistin in einem runden Legato aus der Mitteltonlage zur hohen Lage kulminiert. Wenige klare Töne, Barock, wunderbar.
Als es dann draußen in Strömen herniederregnet, erklärt Ralph Lange sein Zupfinstrument. Laute – la ut – al ud – der Name stammt vom arabischen Begriff für Holz. Früher hätte man Schildkrötenpanzer als Klangschalen genutzt und später aus Holz ein ähnliches Instrument erschaffen. Der lange Hals des Saiteninstruments begründe sich aus der Tatsache, dass es um das Jahr 1600 keine umsponnenen Saiten gab. So verwendete man dünne und lange Darmsaiten, um tief klingende Töne zu erzielen. Wieder was gelernt.
Die Serie Wandelkonzert „Komponist bei Hofe“ spricht nicht nur das Musikempfinden an, sondern explizit auch den Verstand. Das Format insgesamt recht intellektuell. Vielleicht war das der Grund, dass auch an diesem langen Nachmittag nur zwei junge Zuhörer unter den Anwesenden waren. Jedenfalls war dieser „Bach bei Hofe“ alles andere als vielschichtiger Pop. Ein Klangerlebnis mit gänzlich anderem Charakter als beim letztjährigen „Schumann bei Hofe“. Einem Charakter, der sich vielleicht mit „in sich gekehrte Entspannung“ beschreiben lässt.