Östrich-Winkel | analogo.de – Mit 3,3 Millionen Euro Steuergeldern hat das Land Hessen ein Haus im Rheingau herrichten lassen. Der Rheingau erhält dadurch einen weiteren Geschichtsanker für die deutsche Kultur und Kriegshistorie. Wer sich die Bedeutung des Hauses im Netzwerk der deutschen und europäischen Geschichte beschaut, versteht womöglich die riesige Investition. Immerhin verloste der halb-staatliche Hessische Rundfunk im September 2017 ein paar Besichtigungsgutscheine im Rahmen seiner hr2-KulturVerFührung „Reise wie ins 19. Jahrhundert“. analogo.de entführt seine Leserinnen und Leserin auf eine ganz überraschende Reise ins 19. Jahrhundert. Wir zeigen die Bedeutung des Brentanohauses und seine Vernetzung mit der europäischen Geschichte, insbesondere auch zur momentanen Politik rund um das bevorstehende Referendum in Katalonien. Der Bezug zur Stadt Mainz ist ein Goodie für unsere Mainzer Leserinnen und Leser.
Reisezeit: 9 Minuten (Lesezeit : 5 Minuten + Hörzeit: 4 Minuten)
Was hat das Bundesland Hessen und die Träger wohl dazu bewegt, so viel Geld in ein einziges Haus zu stecken? Sind Hessens Kommunen und das Land nicht mit rund 100 Milliarden Euro verschuldet? Und hat der Rheingau nicht genügend Sehenswürdigkeiten auf seiner reichen Kulturerbeliste? Wozu bedurfte es eines weiteren Identifikationssymbols für die deutsche Kulturgeschichte am Rhein?
Nun, wenn es um deutsche Kulturgelder geht, lautet die erste Frage: War Goethe hier? Ja klar. Tatsächlich wohnte der zu diesem Zeitpunkt unverträgliche Vorzeigepoet im Frühherbst 1814 für acht Tage in diesem Ferienhaus der Familie Brentano. Goethe zog es öfter an die Westgrenze des Deutschen Reiches. Im Frühsommer 1793 beschaute er sich aus der Nähe vor der Stadt Mainz die Rückeroberung der Stadt von den Franzosen an. Die Truppen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unter Führung von Preußen und Österreich beschossen Mainz und zerstörten dabei nebenbei den kurfürstlichen Lustgarten Favorite. Goethe war dabei.
Dass Mainz vier Jahre später dennoch an die Franzosen übergeben wurde, lag kaum an der schwachen Militärpräsenz des starken österreichischen Feldmarschalls François Sébastian Charles Joseph de Croix Graf von Clerfait und von Carbonne, sondern am ortsfremden strategischen Frieden von Campo Formio zwischen Österreich und Frankreich im Oktober 1797.
Nach sieben Jahren Franzosenherrschaft begutachtete der frisch zum Franzosenkaiser ernannte Napoléon Bonaparte für 11 Tage seine neue Errungenschaft Mayence. Das war heute vor 213 Jahren im Jahre 1804. Der Franzosenkaiser wollte die ehemals wichtigste deutsche Festung prüfen, inwieweit man von diesem „guten Kriegsplatz“ aus Angriffskriege in Richtung rechter Rheinseite voranbringen kann. Napoléon kam noch sieben weitere Male nach Mainz. In den kommenden fünf Jahren unternahm der Kriegsherr von seiner forteresse française Mainz aus tatsächlich drei Kriegszüge gegen Österreich und Russland (1805), gegen Preußen (1806) und 1809 nochmals gegen Österreich.
Schicksalsorte Mainz & Katalonien
Die Stadt Mainz war ebenso wie das heutige Katalonien schicksalshafter Spielball der Großmächte. Südlich von Frankreich eroberte Napoléon 1812 Katalonien, welches 200 Jahre später, genau genommen in neun Tagen am 01. Oktober 2017 über seine Unabhängigkeit abstimmen möchte. Ebenso wie der französisch-spanische Philipp V. von Anjou Katalonien hundert Jahre zuvor (1714) nahm nun Napoléons Frankreich den Katalanen das Recht auf Selbstbestimmung durch militärische Gewalt. Eine Zeitleiste:
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1714 Deutschland verliert die 100 Kilometer südlich von Mainz gelegene Stadt Landau an Frankreichs Ludwig XIV.
1714 Katalonien verliert seine Eigenständigkeit und Kultur an Spaniens Philip V.
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1792 Die Deutschen (Preußen & Österreich) wollen die Französische Revolution durch eine militärische Invasion stoppen. Sie werden im September bei Valmy/Champagne gestoppt.
1792 Die Franzosen schlagen im Oktober von Landau aus zurück und nehmen Mainz ein.
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1812 Katalonien verliert seine Eigenständigkeit an Frankreichs Napoléon.
1813 Völkerschlacht bei Leipzig.
1814 Goethe wohnt im Brentanohaus in Winkel.
1816 Zehn Monate nach dem Wiener Kongress fällt Landau ans Königreich Bayern.
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2017 Katalonien wird von Spanien angedroht die Eigenständigkeit mit Panzern versagt zu bekommen.
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Östlich von Mainz fegte Napoléon derweil durch Deutschlands Fürstentümer, bis er endlich im Oktober 1813 bei Leipzig die entscheidende Schlacht verlor, die zum Rückgang der französischen Aggressoren führte. Ein Schriftsteller nannte diese Schlacht Völkerschlacht, da hier die großen Völker Frankreichs, Österreichs, Russlands, Preußens und Schwedens gegeneinander antraten. Der Schriftsteller hieß Achim von Arnim (AvA).
Literaturorte Brentano & Goethe
Heute gilt AvA neben Joseph von Eichendorff und Clemens Brentano als wichtiger Vertreter der Heidelberger Romantik. Deutsche Kriegsereignisse und die deutsche Romantik sind kontrastreich, geschichtlich und thematisch eng verbunden – und im Rheingauer Brentanohaus wird diese deutsche Geschichte lebendig.
Zur Familie Brentano gehörte Bettina Brentano. Die Frankfurterin hatte dem Frankfurter Goethe geholfen seine Autobiographie für Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit zu schreiben, indem sie Einzelheiten von Goethes Kindheit aus dem Munde von Goethes Mutter niederschrieb. Doch brach Goethe 2011 die Beziehung zu Bettina Brentano und die Schriftstellerin der Romantik „Bettine“ heiratete den Schriftsteller der Romantik Achim von Arnim. Nach der verlustreichen Völkerschlacht bei Leipzig (über 90.000 Tote) besuchte Goethe das Haus der Brentanos im Jahre 1814, obwohl Goethe mit der jetzigen Bettina von Arnim gebrochen hatte. Das zuvor als Feriendomizil genutzte „Brentanohaus“ war nach 1804 zu einem geistig-kulturellen Zentrum der Rheinromantik geworden. Wenn irgendwo was los war, dann war Goethe nicht weit.
Genau wie Napoléon prägte Goethe seine Zeit und beide Männer bewunderten sich gegenseitig. Goethe bewunderte Napoléon für seine Eifrigkeit, und Napoléon las Goethes Leiden des jungen Werthers. Hatte sich Goethe 1793 noch die Mainzer Rückeroberung von den Franzosen angeschaut, trafen sich Goethe und Napoléon 13 Jahre später zweimal persönlich in Thüringen. Zu diesem Zeitpunkt (1806) hatte Napoléon noch über Mainz am Rhein geherrscht.
Nur 15 Kilometer Luftlinie von der wichtigsten Residenz- und Militärstadt der Gegend lag auf der deutschen Nordseite des Rheins das Brentanohaus in Winkel. 1806 war Winkel also Grenzort des deutschen Reiches mit Blick auf die bösen Franzosen auf der anderen Rheinseite. Dennoch muss die Situation friedlich gewesen sein, denn ab dem Jahr 1806 wurde das Haus in Winkel nicht nur ganzjährig bewohnt, sondern als neuer Mittelpunkt der gesamten Brentano-Familie in Szene gesetzt. Neben Goethe verkehrten die drei Brüder Grimm, Freiherr vom Stein und Achim von Arnim im Haus ein und aus.
„Eine Reise wie ins 19. Jahrhundert“ Juli Rutsch über die hr2-KulturVerFührung, Quelle: © hr2, 08.09.2017, mit freundlicher Genehmigung von hr2. Die letzten Klavierklänge im hr2-Beitrag stammen vom 1870er Büthner-Flügel im großen Zimmer des Brentanohauses. Pianist ist analogo.de-Herausgeber Rainer Winters. Frau von Brentano führte die Besucher durch die Räume.
Bettinas Bruder Clemens Brentano hatte vor einigen Jahren vom nahen Rüdesheim aus eine gefährliche Reise durch die Rheinschlucht unternommen und war vom Loreleyfelsen derart beeindruckt, dass er im Jena des Jahres 1800 seine Ballade Lore Lay schrieb. Der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine umdichtete die Loreley ebenfalls ein paar Jahre später, wonach der Felsen und die damit verbundene Geschichte eine sagenhafte Aura erhielten.
Auch der Schriftsteller Friedrich Schlegel hatte 1806 eine Rheinfahrt durch die wilde felsenreiche Schlucht gewagt. Ebenso wie die heutigen Touristen waren die Menschen von der Kombination aus wilder Schlucht und grandioser Burgenlandschaft fasziniert. Der englische Maler William Turner kam und zeichnete seine schönen Aquarelle von Rhein und Nahe. Das Brentanohaus ist – wenn auch kurzzeitig – eng mit der europäischen Kulturgeschichte verbunden.
Wenn in der Flüchtlingsdiskussion die derzeitige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) die Existenz einer spezifisch deutschen Kultur bestreitet, dann sollte die Hamburgerin vielleicht einmal an den Rhein ins Brentanohaus fahren. Hamburg stand übrigens auch ein paar Jahre unter Napoléons Herrschaft.