Mainz | analogo.de – Nach der verkündeten Schließung der Mainzer Produktionsstätten des Schweizer Kaffeerösters Nestlé und des US-amerikanischen Öl- und Fettherstellers Cargill werden sich mit den Betreibern auch eine Menge Luftschadstoffe aus Mainz und Wiesbaden verflüchtigen. Wir recherchierten, welche Mengen an Gasemissionen der Stadt und ihren Einwohnern in Zukunft erspart bleiben. Nachdem die beiden Mainzer Werksleitungen keine Angaben machen wollten, befragten wir unter anderem die obere Genehmigungsbehörde SGD Süd unter Berufung auf das Landestransparenzgesetz, und erhielten Auskünfte, die auf den Seiten des Umweltbundesamtes nicht erschienen. Bei politischen Auskünften erfuhren wir, dass nicht alle Parteien der Meinung sind, dass eine bessere Luftqualität auch für eine bessere Gesundheit sorgt. Wir schildern die Meinung der FDP und stellen sie der Meinung einer engagierten Umweltaktivistin aus Mainz gegenüber. Eine analogo.de-Recherche als LONG READ.
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Laut Auskunft der SGD Süd emittiert der Schweizer Konzern Nestlé mit seinem Werk in Mainz in nennenswerten Dimensionen Stickstoffoxide, Kohlenmonoxid, (Fein-) Staub und Schwefeldioxid. Ferner ist davon auszugehen, dass Nestlé die für Kaffeeröstereien üblichen flüchtigen organischen Verbindungen (VOC) inklusive organischer flüchtiger Säuren emittiert. Zu den üblichen Röstgasen gehören neben den oben erwähnten noch Aldehyde und Alkohole. VOC entstehen vor allem beim Prozess der Entkoffeinierung und beim Trocknen. Die Hauptquelle gasförmiger Schadstoffe ist die Rösteinheit.
Die letzte Emissionserklärung gemäß 11. Verordnung nach Bundesimmisionsschutzgesetz (BImSchG) gab Nestlé im Jahre 2012 ab. In diesem Jahr 2016 muss bzw. müsste der Konzern die nächste Emissionserklärung für das Jahr 2017 einreichen, sofern er mit Emissionen kalkuliert, die über dem Schwellenwert liegen. Ob dies noch geschieht, ist fraglich, denn der Konzern schließt sein Mainzer Werk. Schließt Nestlé sein Werk womöglich auch, weil in der neuen Emissionserklärung erhöhte Emissionen anfallen würden – analog zum alten Kraftfahrzeug, welches man nochmals durch den TÜV schleppt, aber dafür kräftig investieren müsste?
Durch die Schließung des Nestlé-Werkes müssen Mainzer in Zukunft jedenfalls über alle Haushalte verteilt 657 Kilogramm weniger Staub wischen. Dies ist die im Jahre 2012 von Nestlé deklarierte Staubmenge des Kesselhauses. Doch welche Gase und Aerosole bleiben den Mainzern erspart? Eine kleine Aufstellung:
Stoff | Nestlé Feuerungsanlage | Cargill insgesamt |
Stickstoffdioxid NO2 | 47.628 kg pro Jahr | Nicht deklariert, aber für NOx gibt es keine Emissionsbeschränkung |
Kohlenmonoxid CO | 17.134 kg pro Jahr | ? |
Staub | 657 kg pro Jahr | 8.800 kg pro Jahr |
Schwefeldioxid SO2 | Musste nicht deklariert werden. | |
Flüchtige organische Verbindungen VOC bzw. NMVOC | ? | 346.000 kg pro Jahr |
Quelle: Umweltbundesamt und SGD Süd
Die Emissionen aus der Röstanlage brauchte Nestlé laut SGD Süd nicht deklarieren. Sucht man die Emissionen des Cargill-Werks, so wird man auf den Seiten des Umweltbundesamtes fündig. Im Berichtsjahr 2014 deklarierte Cargill 346.000 Kilogramm flüchtige organische Verbindungen ohne Methananteile (NMVOC). Laut Cargill Werksrepräsentant Abas verfrachtet man das Rapsöl in Tanklastzügen, um es an die weiterverarbeitende Industrie zu liefern. Der anfallende Rapsschrot wird ebenfalls auf Tanklastzüge verfrachtet und landet in den Tiernahrungsprodukten. Cargill deklariert insgesamt 5.170 kg Abfall pro Jahr, hier vor allem mit Chemikalien belastetes Wasser. Die Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsbetrieb Mainz laufe angeblich gut.
Weniger VOC = weniger Bodenozon
Wenn den Städten Mainz und Wiesbaden allein von Cargill 234.000 kg NMVOC pro Jahr erspart bleiben, dann wird sich eine positive Wirkung auf die Gesundheit nicht vermeiden lassen. Denn NMVOC machen sich auf vielfältige Weise bemerkbar:
- lokal als Geruchsbelästigung
- lokal als krebserregende Substanzen (zum Beispiel Benzol)
- Vorläufer sekundärer Luftverunreinigungen: Zusammen mit Stickstoffoxiden (NOx) Bildung von bodennahem Ozon à Sommersmog
- NMVOC + NOx + Sonnenlicht → es entstehen wichtige sekundäre Luftschadstoffe, und zwar oxidierende Verbindungen, die in der Atmosphäre
auf photochemischem Wege entstehen (Photooxidantien). Sie sind ein Hauptmerkmal des photochemischen Smogs
- Ozon (O3)
- Peroxylacetylnitrat (PAN)
- Peroxypropionylnitrat (PPN)
- Peroxybenzoylnitrat (PBzN)
Photooxidationsmechanismen sind einerseits zentral für die Selbstreinigung der Atmosphäre, aber mit ihnen entsteht Bodenozon. Die zwei Voraussetzungen für das Entstehen von Photooxidantien sind a) oxidierende Bedingungen und b) Licht für die photochemischen Reaktionen. Wenn (Schritt 1) nun aus den Ozonvorläuferstoffen CO (siehe Nestlé), CH4, VOC (siehe Nestlé und Cargill), NO und SO2 (siehe Nestlé) und mit Hilfe von NOx direkt oder indirekt (Schritt 2) und mit Hilfe von UV-Licht und unter oxidierenden Bedingungen (Schritt 3) CO2, H20, HNO3, CO2 und H2SO4 ausgewaschen werden (Schritt 4), entstehen dabei auch sekundäre organische Photooxidantien wie O3, ·OOH, ·OH, HCHO, PAN, PPN, PBzN oder Feinpartikel (Schritt 5). Die häufigsten Photooxidantien sind OH und O3. Eine typische chemische Reaktion organischer Verbindungen mit NMVOC wäre: (NM)VOC + NOx (NO2 + NO) + Licht → O3! Fazit: Mit dem Weggang von Cargill sollte in Mainz vor allem die Bodenozon-Konzentration sinken.
FDP – Think local, act local
Angesichts dieser guten Aussichten befragten wir ein paar ausgesuchte Stadtratsparteien und andere Engagierte in der Stadtpolitik. Hermann Wiest, der Geschäftsführer der FDP-Stadtratsfraktion schrieb analogo.de, dass die FDP es begrüßt hätte, wenn die beiden Werke in Mainz bleiben. Denn sichere Arbeitsplätze seien ein „protektiver Faktor für die Werte Gesundheit, Freiheit, Erfolg, Familie, Sicherheit und Gerechtigkeit“. Es sei zudem medizinisch mehrfach bewiesen, dass Arbeitslosigkeit nicht nur mit psychischen Störungssymptomen einhergeht, sondern diese auch verursacht. Die Effekte seien bedeutsam für die Gesundheitssysteme. Der Prozentsatz psychischer Störungen unter Arbeitslosen sei mehr als doppelt so groß wie unter Erwerbstätigen. Diese psychischen Störungen würden sich auch auf die Familie auswirken und zu Belastungen im familiären Bereich führen. Um dies zu verhindern und Bürger/-innen davor zu beschützen, wäre ein Verbleib von Nestlé ein Gewinn für die Städte Mainz und Wiesbaden.
Diese gesundheitlichen Aspekte seien aus Sicht der FDP Stadtratsfraktion noch höher einzuschätzen, als das Thema Umweltschutz. Zumal beide Unternehmen mit hochentwickelten Filtertechniken und mit den in Deutschland zugelassenen Richtwerten arbeiteten. Darüber hinaus sei Cargill Mainz Mitglied beim Umweltmanagementprojekt Ökoprofit, welches sich zum Ziel gesetzt hat, Ökologie im Unternehmen zu berücksichtigen und gleichzeitig noch Kosten einzusparen.
Ein Zwischenfazit: VOC sind als toxische Luftschadstoffe in meist kleinen Volumina auf Dauer stark belastend. Krankheiten der Atemorgane, Nerven und des Immunsystems sind ebenso nachgewiesen wie die Entwicklung von Krebs. Laut einer häufig angeführten Studie der US-Umweltbehörde EPA (2006) erkrankt 1 von 21.000 Personen an Krebs, die regelmäßig VOC ausgesetzt sind. Der Stoff Benzol stellt an allen VOC mit 25% den höchsten Anteil der summierten Risikowahrscheinlichkeit. Für Mainz und Wiesbaden mit seinen rund 500.000 Einwohnern würden demzufolge jährlich 25 Personen sterben, weil die VOC-Belastung in den Städten insgesamt hoch ist. Hat die FDP diese Zahlen berücksichtigt, wenn sie mit dem Umweltschutz eigentlich den Gesundheitsschutz zur Debatte stellt?
Ingrid Lambertus – Think global, act local
Eine Gegenmeinung: Ingrid Lambertus sitzt für das Forum Lokale Agenda 21 Mainz seit Jahren im Klimaschutzbeirat der Stadt Mainz. Lambertus begrüßt den Weggang von Nestlé auch wegen der Geruchsemissionen. Man bekomme bis Mainz-Gonsenheim immer wieder eine „Nase voll“ von Nestlé ab. Lambertus sind vor allem die UMWELT und die Mitmenschen in aller Welt wichtig. Was nützen Arbeitsplätze (hier), fragt Lambertus, wenn dadurch der Lebensraum (hier und anderswo) geschädigt wird? Außerdem gefalle ihr dieses Unternehmen mit ihren Wirkungsbereichen – vor allem der Gentechnik – insgesamt sowieso nicht. Ähnliches gelte auch für Cargill: Hier gäbe es zwar nur „diese“ Ölmühle. Aber wird da auch genmanipulierter Raps verarbeitet, fragt die Umweltschützerin. Zumal das Paket Monokulturen + Düngemittel + Herbizide wie Glyphosat extrem umweltschädlich seien. Wir recherchierten: Laut einer Studie der Universität Göttingen (DOI: 10.5073/jka.2012.434.056) ist der Einsatz vom Herbizid Glyphosat im Ackerbau sehr verbreitet. Besonders verbreitet ist das Spritzen mit Glyphosat bei Raps (87,2% der Rapsflächen). Lese hierzu auch unseren mehrseitigen Glyphosat-Report.
Lambertus hebt auch den sozio-ökonomischen Anteil der beiden Konzerne hervor: Sie würden Subversiv-Wirtschaft („Landgrabbing“) vernichten und somit zum Untergang von Kleinbauern und damit zum Hunger in der Welt beitragen – und letztlich auch zur Landflucht und Flüchtlingsströmen. Indirekt seien die beiden Konzerne ergo für die Zerstörung von Umwelt und Lebensbedingungen für Menschen in fernen Ländern zuständig, die sich dann auf den Weg in unsere Länder machen, um hier als „Wirtschaftsflüchtlinge“ tituliert zu werden.
Cargill-Werk für ADM zu alt
Die Wirtschaft bringt uns zum geldlichen Aspekt: Nestlé und Cargill verflüchtigen sich mit ihren Werken. Selbst der indirekte Wettbewerber von Cargill in Mainz, die Firma Archer Daniels Midland (ADM) möchte das Werk von Cargill nicht übernehmen. ADM Commercial Manager Interfurth teilte uns auf Nachfrage mit, das Cargill-Werk sei im Jahre 1956 gebaut und man wolle den Investitionsstau nicht kompensieren. Als amerikanisches Unternehmen möchte man sich bedeckt halten, so Interfurth. Aber der Manager gibt uns noch ein paar interessante Informationen: ADM verarbeitet ebenfalls Ölsaaten, allerdings aus Soja. Während deren Werke in Hamburg, Rotterdam, Straubing und Spyk auf Raps spezialisiert seien, verarbeite das Mainzer Werk fast ausschließlich gen-modifiziertes Soja. Hier sind wir bei der Nachhaltigkeit von Ingrid Lambertus. Das a) übermäßig eingesetzte Glyphosat wird b) von Landwirten eingesetzt, die damit gen-manipulierten Raps und meist halt auch Soja anbauen, der c) von einem US-amerikanischen Arbeitgeber aus Mainz verarbeitet wird, der d) mit dem Gedanken gespielt hat das Werk des anderen US-Herstellers Cargill zu übernehmen.
Widmen wir uns zum letzten Schluss den erfolgten Subventionszahlungen. Wenn der US-Konzern Cargill nun Mainz verlässt, wird der Konzern Teile der vor nur acht Jahren bezogenen Gelder aus dem EU LIFE-Programm zurückzahlen müssen? Das zuständige Umweltministerium teilt uns auf Anfrage mit, dass das Projekt längst erfolgreich umgesetzt wurde. Cargill erhielt 2004 aus dem LIFE III (Umwelt)-Förderprogramm für die damaligen Investitionen zur Reduktion der Geruchsemissionen und in die Energieeinsparung bei der Ölsaatpressung 213.000 Euro. Die damalige Rechtsgrundlage (EG-Verordnung Nr. 1655/2000, Art. 10) sähe für den Fall eines Rückzugs keine Rückzahlungspflicht vor. Die EU-Kommission könne eine gewährte finanzielle Unterstützung nur bei nachweislichen Verstößen gegen die Bestimmungen der Verordnung (z.B. Nichteinhaltung von Fristen, wesentliche Änderung des beantragten Vorhabens etc.) zurückfordern, kürzen oder aussetzen, so Pressesprecherin Heike Spannagel.
Erfahre mehr über flüchtige organische Verbindungen (VOC) und andere beteiligte Gase wie NO2 in unserem KATA LOGO Luft – Grenzwerte im internationalen Vergleich