Georg Friedrich Händels Oratorium Saul beim Glyndebourne Festival Opera 2025 – mit einer Weihnachtsbotschaft von Rainer Winters

Glyndebourne | analogo.de – Anlässlich des diesjährigen Weihnachtsfestes berichtet analogo.de über die Aufführung des Oratoriums Saul von Georg Friedrich Händel vom 17. Juni beim Glyndebourne Festival 2025. Der Stoff der Handlung ist ein universelles Drama. Händel und sein Librettist Charles Jennens entnahmen ihn der Bibel. Die Botschaft des Oratoriums ist eine dramatische Nationalgeschichte, die sich idealtypisch auf den aktuellen Krieg von Israel gegen Palästina anwenden lässt. Hierbei gibt es augenscheinliche Parallelen zwischen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Saul, dem auf mythische Weise oftmals als ersten König der Israeliten beschriebenen Nationalgründer. Zusammen mit der Inszenierung des Abends als vielleicht beste jemals in Glyndebourne aufgeführte Darbietung beschreibe ich den einzigartigen Zauber sommerlicher Picknickfreuden in der Aufführungspause des Oratoriums. Das Picknick ist ein Signature-Ereignis des sommerlichen Glyndebourne Festivals. Weiter verbinde ich den Konzertbericht mit dem friedvollen Geist des in Bethlehem geborenen Basil Rischmaui und den Erlebnissen eines Museumsbesuches von Händels Haus in London. Ein ANA LOGO Long Read.

Lesezeit: 20 Minuten

Während nicht ganz klar ist, in welchem Jahr Jesus geboren wurde, herrscht doch Einigkeit über den Ort. Es war Bethlehem, die kleine Ortschaft vier Kilometer südlich von Jerusalem und 23 Kilometer westlich des Toten Meeres. Ebenfalls in Bethlehem geboren wurde im Jahre 1940 der Arzt Basil Rischmaui. Rischmaui war mein alter Hausarzt. Als Kind wusste ich, dass er aus Bethlehem stammte, aber sonst wusste ich nichts Genaueres.

Nie habe ich erfahren, ob Basil Rischmaui ein Jude, Muslim oder Christ war, ob er sich als Israeli, Palästinenser oder beides sah. Für mich war mein Hausarzt nur der Mann mit der beruhigenden tiefen Stimme, der aus derselben Ortschaft stammte wie Jesus. Dass Bethlehem streng genommen nicht im heutigen Israel liegt, sondern im zum Land Palästina gehörenden Westjordanland, war eine politische Sache, die ein Kind wie mich nicht interessieren konnte.

Seit 1975 war Basil Rischmaui Hausarzt im Ort Morsbach im idyllischen Süden Nordrhein-Westfalens. Vor zwei Jahren verstarb der Arzt aus Bethlehem. Noch genauer gesagt war Rischmaui in Bait Sahur geboren worden, zwei Kilometer östlich von Bethlehem, auf dem Gebiet der alten „Hirtenfelder“ der Bibel, auf denen die Hirten lagerten, welche Besuch von Engeln erhielten, die von der Geburt Jesu zwei Kilometer westlich berichteten, einem Jesus, der der Welt Frieden auf Erden bringe.

Bethlehem galt schon in der alten Zeit als die Stadt Davids, des ebenfalls mythischen dritten Königs der Israeliten aus dem Jahre 1.000 vor Christus. Laut jüdischem Glauben sollte der Nachfolger dieses geradezu göttlichen Davids aus dem Hause David kommen, also ein erblicher Nachfolger Davids sein. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass auch Jesus – rund eintausend Jahre nach seinem Vorfahren David – in Bethlehem geboren wurde.

Den Wikipedia-Link zur Davidischen Erblinie gibt es übrigens nicht auf Deutsch, was darauf schließen lässt, dass es in anderen Ländern mehr Anhänger der Verwandtschaftslegende gibt. Ebensowenig listet das deutsche Wikipedia solche biblischen Artikel wie denjenigen über Yeshua, einem hebräischen Namen für Jesus. In der Abstammungslinie von David bis Jesus finden sich so prominente Namen wie Salomon, Amon, Zadok, Jakob und natürlich Josef.

Als junger Mensch besuchte Basil Rischmaui die Bethlehemer Schneller-Schule. Der Pädagoge Johan Ludwig Schneller hatte eine besondere Art von Schulen im Jahre 1860 in Jerusalem begründet. Sie nahmen Waisenkinder auf, ohne nach der Religion zu fragen. Eher sei doch eine gute schulische und handwerkliche Ausbildung die Grundlage für ein Leben in Würde, so die Überzeugung dieser Einrichtungen. Und so ist Rischmauis humanes Lebenswerk eng mit den guten Erfahrungen verknüpft, mit denen er aufwuchs.

David dagegen war ein Krieger. Ebenso wie sein Vorvorgängerkönig Saul. Oder Benjamin Netanjahu, der wie eine Verkörperung des Kriegerkönigs Saul erscheint. Die Bibelgeschichte rund um Saul und David ist hochdramatisch, die perfekte Vorlage für Händels Oratorium. Saul ist ein wahres Musikäquivalent zu den Shakespeare-Dramen Hamlet, Othello und King Lear.

Es geht um die Geburtsstunde der Idee eines Staates Israel und hier genau um die Details auf Seiten der Protagonisten. Über die Davidische Abstammungslinie lässt sich eine direkte Verbindung zur Geburt Jesu herstellen, also Weihnachten. Da Jesus wie ein Gott angebetet wird, und Jesus der angestammte Sohn Davids sein soll, geht es bei Saul – wie bei Weihnachten – de facto um die Errichtung eines Gottesstaates.

Ein Gottesstaat, wie es der Iran ist, oder das heutige Israel. Oder Großbritannien, wo am Weihnachtstage die erste dramatische Meldung aller Radio- und Fernsehsender (Beispiel: Classic FM am 25.12.2025 am Morgen) die Meldung über das britische Volk ist, welches angeblich gespannt auf die königliche Familie blicke, wie sie heute der Weihnachtsmesse beiwohnen werde.

Obwohl das Oratorium Saul an sich ein finsteres Musiktheaterstück ist, manipuliert der von Juden abstammende Glyndebourne-Regisseur Barrie Kosky die Sinne auf eine Weise, dass man Saul zumindest im ersten Akt für ein heiteres Stück halten könnte. Der insgesamte Jubel über David als neuen großen König der Israeliten drückt sich in knallbunten Karnevalsfarben der Bühnendeko aus. Ja die Inszenierung des ersten Aktes fällt so opulent aus, dass die Gefahr einer kognitiven Dissonanz besteht (wobei hier keine musikalische Dissonanz gemeint ist).

Der zweite Teil des Abends ist ein sehr düsterer Teil. Ein Highlight ist Händels berühmter Todesmarsch, mit all seinen Trompeten und gedämpften Trommelklängen. Dem britischen und deutschen Staat dient er als offizieller Trauermarsch. Die Bundeswehr spielt ihn ebenso wie in England die Grenadier und Scots Guards oder die State Trumpeters.

Blumenbouqets, Pantomimen und umherschwingende Tänzer können nicht über den düsteren Stoff von Händels Oratorium Saul hinweggtäuschen. Bildrechte: Glyndebourne Festival Opera

Bei den folgenden Begräbnissen wurde Händels Todesmarsch gespielt:

1799 George Washington – der erste Präsident der USA
1806 Admiral Lord Nelson Begräbnis in St. Paul’s Cathedral – dies war die erste berühmte Verwendung des Marsches bei einem englischen Staatsbegräbnis
1827 Premierminister George Canning Begräbnis im Westminster Abbey
1852 Arthur Wellesley Duke of Wellington Begräbnis in St Paul’s Cathedral
1865 Premierminister Henry John Temple Viscount Palmerston Begräbnis im Westminster Abbey
1865 Abraham Lincoln – ermordet – der 16. Präsident der USA
1898 Premierminister William Gladstone Begräbnis im Westminster Abbey – es war das erste Staatsbegräbnis eines Commoners = Nicht-Adeligen
1952 König Georg VI.
1965 Winston Churchill Begräbnis im Westminster Abbey
1979 Lord Louis Mountbatten 
1997 Prinzessin Diana Begräbnis im Westminster Abbey
2015 Richard von Weizsäcker Begräbnis auf Waldfriedhof Berlin-Dahlem
2021 Prinz Philip Begräbnis im Windsor Castle
2022 Queen Elizabeth II. 19. September Begräbnis im Westminster Abbey

Im Laufe des Opernabends ergeben sich Assoziationen zu so manchen Tagesnachrichten aus der realen Welt. Saul stammt aus dem Hause Benjamin, ebenso wie Israels Ministerpräsident mit Vornamen heißt: Benjamin Netanjahu. Benjamin ist der Name eines von zwölf Stämmen Israels, wobei viele christliche Briten bis heute glauben, legitime Nachfolger von den zehn verlorenen Stämmen jener frühen Israeliten zu sein. Sauls Sohn heißt Jonathan, ebenso wie Netanjahus von Palästinensern getöteter Bruder: Jonathan Netanjahu. In den Jahren 1979 und 1980 führte Benjamin Netanjahu das Jonathan Institut für Terrorismusforschung. De facto hat Netanjahu eine Menge von Saul, vielleicht denkt er sogar, es sei (wie) Saul.

Schließlich taucht der Name David allerorten auf. Der neue große König der Israeliten, der Jonathan liebt. Der für Saul kämpfte, den ersten König des Clans. Der Staatsgründer Israels aus dem Jahre 1948, der den Staat eigenmächtig Israel nannte und ausrief, anstatt – wie von anderen vorgeschlagen – Judäa, Zion, Ever oder Eretz Israel = Land Israel: David Ben Gurion.

Dieser fundamentalistische Krieger David Ben Gurion entschied sich sehr kurzfristig und eigenmächtig für den Staatsnamen „Israel“. Selbst US-Präsident Truman hatte sich in der offiziellen Anerkennungserklärung der USA auf den Namen „Jewish State“ vorbereitet. David Ben-Gurion war nicht nur ein hinterlistiger im Untergrund agierender Typ, sondern auch ein Krieger. DAS ist ebenso einer der vielen Geburtsfehler Israels, einer wie er bzgl. Saul seit dreitausend Jahren erzählt wird.

Fakt ist: In Israel nehmen die (Gottes-) Krieger die obersten Positionen ein, was man unter anderem mit dem Davidbund bzw. Nathanbund erklären kann. David bekam von Gott zwar kein OK, einen Tempel zu bauen (das machte ja später Salomon), dafür aber über den verheißenden Propheten Nathan das Gottesversprechen eines ewigen Königtums und Throns plus eines Nachkommens, dessen Königreich ewig bestehen würde (Haus David). Also wird David zum Idealbild des gesalbten Königs (hebr. Maschiach = Messias), dessen Dynastie die Erlösung Israels und der Völker bringen soll. Der ewige Thron Davids manifestiert sich schließlich in Jesus, dem Sohn Davids.

Im Kontext der Inszenierung für das Glyndebourne Festival Opera 2025 ist bemerkenswert, dass die Rolle des Davids (gespielt von Iestyn Davies) von einem Spender unterstützt wurde, der anonym bleiben wollte, während fast alle anderen Sponsoren beim Namen genannt wurden. In mehrfacher Hinsicht ist David ein Synonym für die kriegerische Staatsräson Israels.

Das Drama des Abends sei wieder anhand unserer berühmten #Erlebnisschnipsel erzählt.

1. Akt ——————-

1. Fast alle 1.200 Plätze des schicken holzvertäfelten Opernhauses sind besetzt. Im Vergleich zu anderen Opernhäusern gibt es zwischen den Sitzreihen ausreichend Beinfreiheit. Das Opernhaus hat drei Ränge, edle Holzvertäfelungen statt rotem Rokoko-Samt.

2. Noch bevor sich der Vorhang hebt, zieht der abgeschlagene gigantische Kopf Goliaths das Publikum in seinen Bann. Er liegt vor dem Vorhang. Ein Apéritif.  

3. Das größtenteils im Londoner Southbank spielende Orchester mit dem netten Namen Orchestra Of The Age Of Enlightenment gibt die lange barockene Einleitung des Oratoriums zum Besten. Die Musik wie alte Hofmusik, definitiv ohne exotischen Avancen, etwa weil Palästina in Asien liegt. Beschwingte Weisen wie bei einem Sommerwiesenpicknick.

4. Der Vorhang hebt sich, die Sprache des Abends ist Englisch. Der ostdeutsche Händel ging erstmals 1710 nach England und lebte dort bis zu seinem Tod. Für die Bühne waren zunächst Italienisch und später Englisch die Sprachen seiner Wahl. Saul entstand in Händels letzten Komponistenjahren und wurde am 16. Januar 1739 uraufgeführt. Das hübsche Theatre Royal am Haymarket besteht noch heute, zeigt derzeit als umbenanntes Majesty’s Theatre das Musical Phantom of the Opera. Auch seinen Eigennamen änderte der Mann aus Halle in George Frideric Handel.

5. Rund 45 Sänger auf der Bühne, in knallbunten Tüll- und Satinstoffen gekleidet. Kostümbildnerin Katrin Lea Tag aus Berlin ist eine der Stars des Abends. Alle lieben ihre Kompositionen barocker Opulenz.

6. Am Ende der ersten Szene singen 30 Sänger ein langgestrecktes Halleluja als Siegeslied. David hat den übermenschlichen Krieger Goliath besiegt. Wie herrlich ist Dein Name, oh Herr, in aller Welt bekannt. Über allen Himmeln, oh verehrter König, wie hast Du deinen glorreichen Thron aufgestellt. Halleluja.

Countertenor Iestyn Davies alias David hat den übermenschlichen Krieger Goliath besiegt, die Israeliten jubeln. Bildrechte: Glyndebourne Festival Opera

7. Das Bühnenbild ist äußerst farbenprächtig, ein riesiger Tisch umspannt die halbe Bühne, darauf türmen sich Blumengestecke nebst Figuren vom Schwan, Pfau, Fisch, Muscheln, Hirsch- und Bisonkopf. Lichtdesigner Joachim Klein sorgt für ein warmes Bühnenlicht.

8. Im Stile von Bond-Darsteller Daniel Craig sitzt David mit nacktem Oberkörper auf dem Tisch. Leute waschen seine Wunden an Körper und Füßen. Iestyn Davies singt im himmlischsten Countertenor den David. Erinnerungen an Andreas Scholl werden wach, der durch seine Stimme in Shakespeares Kino-Adaption des Kaufmanns von Venedig ein Millionenpublikum in Melancholie versetzte. Der Opernsaal von Glyndebourne durchdrungen von einem klaren Ton Davies‘.

9. Da der tapfere Schäfer David den Philister Goliath besiegt hat, wird er an den Hof von König Saul gebeten. Hier lernt er Sauls Sohn Jonathan kennen, gut kennen. Von nun an, edler Jüngling, nimm meine Freundschaft an, und Jonathan und David sind eins.

10. Unter allen historisch-getreuen Kleidungsstücken sticht das gelbe Reifrockkleid von Prinzessin Merab heraus, dargestellt von der irischen Sopranistin Sarah Brady. Operndirektor Barrie Kosky stellt sie in den visuellen Mittelpunkt des Stücks. Im zweiten Akt wird Merab im schwarzen Kleid verloren in einem Meer aus echten Kerzen stehen. David soll Merabs Schwester (Prinzessin Michal) zur Frau bekommen, sagt Saul, obwohl David Merab liebt. Michal will ja nicht wirklich etwas von David, ist er ihr doch vom Stande her nicht angemessen.

11. Doch jetzt macht Merab erstmal ihrem Bruder Jonathan Vorhaltungen. Sarah Brady dabei dramatisch und leicht verrückt. Was für erbärmliche Gedanken ein Prinz doch haben kann, im Rang ein Prinz, im Geist ein Sklave. Denn Jonathan fühlt sich David nah. Keimt hier gar eine Liebe auf? Dann wären ja schon drei Kinder des Königs David verbunden. Michal und Jonathan lieben David, und Merab soll ihn heiraten. Das ganze hört sich dennoch recht hölzern an. Dem italienischen Belcanto können nun mal weder nünchtern-abgeschnittener Rezitativ-Barockgesang noch die englische Sprache das Wasser reichen.

12. Jetzt beschwört der Hohepriester David, er solle seine ganze jugendliche Kraft (thy earlier vigor) Gott widmen. Den Hohepriester spielt den kongeniale Tenor Liam Bonthrone. Wie ein dämonischer Scharlatan mit roten Lippen kommt er daher. Weitere rot geschminkte Lippen der Chorsänger verstärken die Joker-Stimmung. Dann tritt der Scharlatan vor den Vorhang – mit Blumen auf dem Kopf.

13. Nach dem Vereinnahmungsversuch der Göttlichen arbeitet sich der weltliche König Saul an David ab, denn überall erhält David mehr Aufmerksamkeit als er, der König. Bariton Christopher Purves mit einer höchst emotionalen liedhaften Weise (Air) in fortschreitender Eifersucht zum „upstart boy“ David: Vor Wut werde ich platzen, wenn ich sein Lob höre. Oh, wie sehr hasse und fürchte ich diesen Jüngling. Welcher Sterbliche kann einen solchen Rivalen ertragen?

14. Da↑da↑da↑da, da↑di↓da, da↑da↑da↑da, da↑di↓da, barocke Musikpracht mit Spinett und Querflöte.

15. Prinzessin Michal ist traurig, vor allem auch weil ihr Vater mal wieder wütend ist. Im Rezitativ und prachtvoll-hellblauen Kleid singt die iranisch-britische Sopranistin Soraya Mafi mit warmem Timbre: Nimm deine Harfe und vertreibe, wie du es schon oft getan hast, den wütenden Dämon aus der Brust des Königs und beruhige seine gequälte Seele mit göttlichen Klängen.

16. Der dämonische Hohepriester macht sich ans Werk, was Hohepriester nun mal so tun: Sie verbreiten Verschwörungstheorien und entmenschlichen diejenigen, die ihre Macht bedrohen, in diesem Fall geht es gegen Noch-König Saul: Von Schmerzen geplagt, tritt nun der König hervor und murmelt schreckliche Worte, die ihm die Hölle, keine menschliche Zunge, beigebracht hat.

17. Und weiter beschwört der Joker in Szene 4 Gott gegen Saul: Und obwohl durch teuflische List eine Zeit lang Unordnung herrschte, wird die Zeit kommen, in der die Natur ihre ursprüngliche Form wiedererlangen und Harmonie für immer herrschen wird. Da haben wir ihn wieder, den Teufel, vom Heiligen an die Wand geschworen. Und gleichzeitig: Dass es in Natur und Universum eine Harmonie gab, war eine große Vision Händels. 

18. Immer mehr ist Saul verzweifelt. Heutzutage nennt man das Marktwirtschaft, wenn das bessere Produkt gekauft wird, sich im Wettbewerb der Stärkere und Schönere durchsetzt. Saul liegt am Boden, auf der Brust, hoffnungslos.

19. Nun Davids berühmte Weise in der fünften Szene, das Largo ein Highlight jeder Saul-Aufführung. Das Orchester unter Leitung von Jonathan Cohen begleitet. Iestyn Davies mit filet-zarter Weise wie Andreas Scholl in seinen besten Tagen: Oh Lord, whose mercies numberless … Oh Herr, dessen Gnade unzählbar ist, über alle Deine Werke herrscht, obwohl der Mensch täglich Dein Gesetz übertritt, Deine Geduld kann nicht versagen. Wenn seine Sünde noch nicht zu groß ist, beherrsche den geschäftigen Teufel, warte noch länger auf Reue und heile seine verwundete Seele.

20. Iestyn Davies hebt Christopher Purves hoch, im Arm liegend streichelt David seinen König. Eine elegische Harfe erklingt. Die ganze Szene von enormer Intimität. 

Szenen von enormer Intensität und Intimität im Oratorium Saul beim Glyndebourne Festival Opera 2025. Bildrechte: Glyndebourne Festival Opera

21. Bislang hat der niederländische Tenor Linard Vrilink an drei Stellen den Jonathan gesungen. Nun kniet er neben David, der seinen Vater im Arm hält.

22. Es reicht, vor lauter Eifersucht weist der König seinen Sohn an, David zu töten. Dabei ist er so zornig auf Jonathan, dass er in seinem Zorn gar einen Speer auf seinen Sohn wirft, weil dieser David verteidigt.

23. Saul hat schwarze Flecken im Gesicht. Der Zorn nagt an seiner Gesundheit. Nun kriegt er auch noch Saures von seiner Tochter Merab, die David liebt und es auch nicht so toll findet, dass der Vater um ein Haar noch ihren Bruder tötete. Merab nennt ihren Vater einen launischen Mann, in seiner selbstsüchtigen Laune verloren, von jedem Wind der Leidenschaft hin und her geworfen. Jetzt setzt er seinen Vasallen auf den Thron, dann stürzt er ihn tief hinab wie die Erde, sein Temperament kennt keinen Mittelweg, extrem gleichermaßen in Liebe und Hass. Librettist Charles Jennens at it’s best. Saul küsst seine Tochter, so Unrecht wird sie nicht haben.

24. Jonathan stellt sich gegen seinen rachsüchtigen Vater: Deine strengen Befehle kann ich nicht befolgen. Das nennt man Gewissensentscheidung und Emanzipation. In Deutschland haben Polizisten das Recht einer Gewissensentscheidung, ob sie Demonstranten zusammenschlagen oder nicht. Und Jonathan später weiter: Oh kindliche Pietät, oh heilige Freundschaft. Wie soll ich euch miteinander versöhnen? Grausamer Vater. Deinen gerechten Befehlen habe ich immer gehorcht, aber meinen Freund zu vernichten, den Tapferen, den Tugendhaften, den gottgleichen David, Israels Verteidiger, Schrecken seiner Feinde. Diese Pflicht gegenüber Gott, gegenüber David, und gegenüber Dir.

25. Jetzt kommt es wieder durch: Die englische Sprache als Opernsprache entfaltet nicht die exotisch-melodischen Reize des Italienischen. Vielleicht ist das Englische auch deshalb Computersprache, Geschäftssprache, Allerweltssprache.

2. Akt ——————-

26. Wie zu Beginn des ersten Aktes steht wieder der volle Chor mit 40 Leuten auf der Bühne. Genauer: Auf dem Tisch. Pures Händeldrama live, was für ein Erlebnis. Fantastische Stimmen, Tenor, ein sattelfester Mezzosopran ist herauszuhören. Die 40 steigen vom Tisch, knien sich hin und verbeugen sich viele Male im Takt wiegend.

27. Quizfrage: Wie heißt der älteste Sohn der Hölle? Die Antwort des Chores: Neid. Hör auf, in menschlichen Herzen zu wohnen, Du Neid, ältester Sohn der Hölle. Immer die Glücklichen zu untergraben. Der Chor der hochchristlichen Händel und Jennens als Moralapostel.

28. Jetzt eine Überraschung: Jonathan und David küssen sich. Die Bibel berichtet zu dieser Beziehung, dass deren Liebe stärker war als es eine Liebe zwischen Mann und Frau je sein könnte. Mit dem Kuss hängt sich der schwule Regisseur Kosky einen gestalterischen Deut zu weit aus dem Fenster, zumindest was den originären Stoff betrifft. Der streng gläubige Librettist Charles Jennens hatte nicht unbedingt eine sexuelle Beziehung im Kopf, als er den Text für Saul der Bibel entnahm. Aber auch das ist halt Kosky, opulent und übermäßig pointiert. Hohe Männerstimmen erklingen, wieder die helle Harfe, diskrete Violinentöne. Damm,↑di,damm wie La,↑la,la.

29. Hast du meinen Befehl befolgt und meinen Todfeind, den Sohn von Jesse, getötet, fragt Saul seinen Sohn. Zur Erinnerung: Jesse bzw. Isai ist der Vater Davids und wurde – wo sonst – in Bethlehem geboren.

30. Sauls gestrichener Baritonbass wechselt mit hellen Männerstimmen von David und Jonathan. Jonathan politisiert David: Ach, mein Vater, ist David Dein Feind? Sag lieber, er hat Dir und der Nation einen wichtigen Dienst erwiesen, sein Leben für beide riskiert und unseren riesigen Feind getötet. Sündige nicht, oh König, gegen den Jüngling, der Dir nie Unrecht getan hat, denke an seine Treue und Aufrichtigkeit. Ritter und andere Killer erhielten im Mittelalter Ländereien, wenn sie für den König kämpften.

31. Jonathan weiter philosophierend-politisch: Welchen Ruhm kann man erlangen, wenn Städte gestürmt und Schlachten gewonnen werden? Daran erkennt man den besten Helden: Er kann sich selbst bezwingen. Der Weiseste und Größte seiner Art, der die Raserei seines zornigen Geistes mit den Fesseln der Vernunft zu bändigen weiß. Madness of his mind: Ich denke an Benjamin Netanjahu, der wegen der ewigen Trauer über den Palästinensermord an seinem Bruder Jonathan kein Ende des vergeltenden Tötens zu kennen scheint.

32. Als ob sich Saul und alle drumherum nun beschwören muss: I am not mad.

33. Endlich mal wieder kommt eine Frau zum Zuge – und … es wird lustig. Der Saal lacht über Michal.

34. Die 40 fuchteln wieder auf dem Tisch. Lebendig ist er ja, der Glyndebourne Chorus.

35. Nun die vielleicht besonderste Stelle des ganzen Abends: Ein göttlicher Christopher Purves sagt langsam und prägend: I _ am _ the _ king. Saul muss es sagen, wenn die anderen schon denken, dass es mit ihm zu Ende geht.

I am the king, raunt Bariton Christopher Purves im Saul beim Glyndebourne Festival Opera 2025. Bildrechte: Glyndebourne Festival Opera

36. Saul in Weiß, das Licht geht aus. Für einen Moment der Leere sind Bühne und Saal pechschwarz. Ein Raunen geht durchs Publikum. Man hat den Machtverlust von Saul kommen sehen, in den ersten zwei Akten Minute für Minute. Doch schafft es Kosky, mit diesem dramaturgischen Knall auf den dritten Akt vorzubereiten.

37. Bravo, Bravo, begeisterter Applaus.

Das Glyndebourne-Picknick ——————-

38. Normale Opernpausen dauern rund 20 Minuten. Nicht beim Glyndebourne Festival Opera, und erst recht nicht, wenn es ein sonniger Picknicktag wie heute ist. Die Pause dauert von 18:30 Uhr bis 20:00 Uhr. Zeit genug, unter Bäumen, am See oder sonst irgendwo im englischen Landschaftspark zu picknicken und Champagner oder ein anderes gutes Glas zu trinken.

39. Draußen scheint die Sommersonne. Die satt-grünen Bäume wehen in leichter Brise. Überall im Park ploppen die Sektkorken. Langsam füllen sich die Sammelcontainer, die an einigen Stellen im Garten für die Korken bereitstehen.

40. Jetzt sitzen die Opernfreunde in Gruppen zu zweit, dritt, viert oder mehr an kleinen oder großen Tischen. Manche haben ihre eigenen kleinen Campingtische mitgebracht, wieder andere lassen sich an etwas größeren Gartentischen ein kleines Sommerbuffet richten. Wieder andere haben eine Picknickdecke ausgebreitet, auf denen nette Picknickkörbe aus Korbgeflecht den exquisiten Inhalt verwahren. Jeder scheint diese außergewöhnliche Atmosphäre zu genießen.

Time for a break? Auf die Gäste warten zubereitete Leckereien. Bildrechte: Rainer Winters

41. Ein bis drei Stunden vor Beginn des ersten Aktes waren die Gäste bereits angereist. Auf dem Parkplatz standen zig Bollerwagen bereit, mit denen man die Köstlichkeiten von seinem Auto bis hin zu seinem Picknickplatz rollen konnte. Zwei schicke Umkleideräume für die Gäste stehen ebenfalls bereit. Viele Gäste kommen von weiter her, die meisten aus London. Das Operngelände befindet sich zudem nicht in einer Stadt, sondern auf dem Land, umringt von Kuh- und Talwiesen. In den Umkleideräumlichkeiten geschehen die wunderbarsten Metamorphosen vom Autoreisenden hin zum in Abendrobe gekleideten Festivalbesucher. Das bukolische Erlebnis der englischen Art, ein an Eleganz kaum zu übertreffender Landausflug.

42. Nach rund 70 Minuten beginnen die ersten, ihre Picknickarrangements zurück zum Auto zu rollen. Nach der Oper gegen 21:30 Uhr wird es zwar noch hell sein, aber dann kann man noch unbeschwert im Park flanieren oder von dannen ziehen.

Das Picknick ist zu Ende – weiter gehts im 2. Akt ——————-

43. Der Empfangsbeifall des Publikums ist riesig. Bravorufe.

44. Das Publikum hatte ein tolles Sommerpicknick, OK. Aber drinnen fangen die Probleme jetzt erst richtig an. Das Bühnenbild ist jetzt düster, die Tänzer in schwarz. Neben mir sitzt eine angehende Opernsängerin. Sie war bei der Generalprobe dabei und sagt: Teil 2 sei ihr Lieblingsteil.

45. Verteilt über der Bühne brennen da auf einmal hunderte Kerzen, echte Wachskerzen. Einmalig. Eine logistische Meisterleistung für eine 90-minütige Pause. Man erinnert sich an all die Berichte abgebrannter Londoner Musikbühnen über die Jahrhunderte hinweg.

Das Londoner Haus, in dem Händel 36 Jahre lang wohnte und in dem er die Oratorien Messias und Saul komponierte, brannte übrigens niemals ab. Seit dem Jahre 2001 kann man das Haus als Museum besichtigen. In einem der Zimmer hängt ein Gemälde von Charles Jennens, im kleinen Zimmer nebenan komponierte Händel all seine Stücke, die er im Zimmer zur Hauptgasse hin probeweise durchspielte, so dass die Vorbeischlendernden davon Notiz bekamen. So stand Händel eigentlich immer im Blicke der Öffentlichkeit, selbst zuhause.

So nebenbei: Eine interessante Feststellung, die ich in Händels Haus machte, war die Kürze von Händels Bett. Händel war ein groß gewachsener Mann, sein Bett aber nur 150 Zentimeter lang. Die Antwort hierzu erhielt ich im Museum: Wie zu dieser Zeit üblich, schliefen die Menschen im Sitzen, weil man dachte, das sei gesunder. 

46. Auf einem Drehteller stehend dreht sich inmitten des Kerzenmeeres eine Orgel. Der Organist spielt die passende Musik zum Bühnenbild.

Orgelmusik mal anders, beim Glyndebourne Festival Opera 2025 im Kerzenmeer. Bildrechte: Glyndebourne Festival Opera

47. Welch ein atemberaubendes Drama. Ob die Sänger da vor lauter Stickoxiden überhaupt noch Luft bekommen? Well, Andreas Gilger dreht sich samt Instrument, sitzt noch aufrecht und lässt die Finger tanzen. Aber rechnen wir kurz die Molmassen nach: Verbrennen die Kerzen unvollständig mit Rußentwicklung, entsteht Kohlenmonoxid (CO, Molmasse 28 g/mol). Der ist leichter als Luftsauerstoff mit seinen Hauptanteilen von Sauerstoff und Stickstoff (Molmasse 29 g/mol) und würde vom schwereren Luftsauerstoff nach oben gedrängt.

Das sich bildende Stickstoffdioxid (NO2) mit seiner Molmasse von 46 g/mol würde zwar die Atemluft vom Boden nach oben drängen, weil es schwerer als Atemluft ist, aber wir können davon ausgehen, dass die Techniker für eine gute Durchlüftung gesorgt haben. Hätten sie das nicht, wären Atemwegserkrankungen eine wahrscheinliche Gefahr.

48. Zwischenfazit: Erst bunteste Üppigkeit in Akt 1 und 2, dann draußen sommerlichstes Grün und nun schwarz-lichterne Düsterheit. Ein Farben-Triplett aus Natur und Kultur der Sonderklasse.

49. Inmitten aller Kerzen steht jetzt dieselbe Frau, die eben das schönste Kleid des Abends trug. Merab trägt nun tiefes Schwarz und singt: Author of peace, Du Friedensstifter, der Du jede Leidenschaft der Seele beherrschst, dem wir allein zu verdanken haben, dass Worte so süß wie Honig fließen, erfülle seine Zunge mit Deinem lieben Einfluss, und grausamer Zorn weiche sanfter Überredung. Niemals wart das Wort „au___thor“ schöner besungen als heute abend von Sarah Brady. Als sie endet, versinkt sie wieder in der Bühne. Ein Bühnen- wie ein Weltuntergang.

50. Saul trägt langes wallendes Haar, nicht am Scheitelansatz, sondern das Haar verflüchtigt sich langsam gen Hinterkopf, die letzte Haarpracht so flüchtig wie seine Königswürde, seine Jugend und Kraft.

51. Der Chor klagt Saul an: Oh, fatale Folge der Wut, von der Vernunft unkontrolliert, mit jedem Gesetz, das er außer Kraft setzen kann, keine Fesseln halten das wütende Monster zurück, von Verbrechen zu Verbrechen geht es blindlings, ohne Ende, außer seiner eigenen Zerstörung. Geht es hier um Netanjahu oder Saul – oder beide? Ob der israelische Premier gar meint, wie König Saul zu sein? Beide, Netanjahu und Saul verloren einen Jonathan. Im Falle Netanjahus, als sein Bruder ein von Palästinensern entführtes Flugzeug in Uganda befreien wollte. Ob das einer der Hauptgründe für Netanjahus Unbarmherzigkeit gegenüber den Palästinensern ist, denen er gerade alles nimmt?

52. Während der anfangs fast nackte David von Szene zu Szene besser gekleidet war, steht Saul jetzt nur noch in Unterhose da – und tritt in solcher Montur vor den Vorhang. Bemitleidenswert wäre ein noch zu schwaches Adjektiv, um das von Christopher Purves gespielte Leid zu beschreiben. Links und rechts von ihm 15 weiß gekleidete Schauspieler mit lippenstiftroten Mündern.

3. Akt ——————-

53. Die schräge Bühne ist leer, schwarz-grauer Nebel wabert. Saul ist so verzweifelt, dass er sich jetzt an die Hexe von Endor wendet. In halbnackter Montur: Elender Mensch, der ich bin, Urheber meines eigenen Untergangs. Wo sind meine alten Stützen? Wenn Dir der Himmel keine Hilfe gewährt, suche sie in der Hölle. Saul versinkt im Erdboden. Was für eine Inszenierung. Ein Zwischen-Bravo für die Choreographen Otto Pichler und Merry Holden.

54. Die Konsultation beginnt, Saul bittet die Hexe, Samuel zu erwecken. Zur Erinnerung: Im alten Testament gilt Samuel als ein Initiator des Königtums von Israel. Der Legende nach lebte der historische Samuel im 11. Jahrhundert vor Christus und spielte eine wesentliche Rolle als Verfechter der Jahwe-Religion. Man kann sich Samuel vorstellen wie heute einen Klaus Schwab, der mit seiner WEF-Agenda zwecks Austausch von Lebensweisen sektenartige Sozialkontrollen beschwört.

55. Während die Hexe den Propheten Samuel auferstehen lässt, nährt sich Saul an den Brüsten der Hexe. Infernales Sodom und Gomorrha in Glyndebourne.

56. Samuel, so gar nicht erpicht ob der Erweckung aus dem friedlichen Schlaf, fordert eine Erklärung für das Erwecken. Saul erklärt ihm: Wenn nicht mal Gott auf Deine Träume und Fragen antwortet, dann bleibt nur die Hoffnung, von Dir zu lernen, welchen Weg ich einschlagen soll. 

57. Samuel ist sprachselig und erklärt, er habe Saul das Königreich entrissen, weil er die Feinde der Amalekiter verschonte. Deshalb habe er das Königreich David gegeben und wird morgen das Leben Sauls und seiner Söhne nehmen. Well, die Philister würden den dreckigen Job machen.

58. In der nächsten Szene ist es dann soweit: Ein schwarz gekleideter Amalekiter mit Kapuze berichtet David vom Tode Sauls und Jonathans. Dem Erdboden gleich ist David von Trauer niedergerissen, liegt zusammengekauert vor dem Bühnenvorhang.

59. Mittelalterliche Querflötenklänge ertönen. Schlachtfeldstimmung, Pauken, ein langsamer Marsch, überall liegen schwarze Körper, dazwische ein weißer Körper. Barrie Kosky kann es. Es ist der berühmte Todesmarsch Händels. 

60. Nun setzen sich die schwarzen Körper auf. Der Glyndebourne Chorus singt Mourn Israel, trauere Israel. Deine auserwählten Jüngsten sind auf Gilboa gefallen. Wie wurden Deine schönsten Hoffnungen zunichte gemacht. Was für ein Haufen mächtiger Krieger liegt auf der Ebene verstreut. So besingen sie ihre Veteranen und tanzen danach das Nationallied. Ja, so macht man ein Nationalepos. Zunächst erfinde man einen heroischen Namen, begründe dann die Machtfrage und emotionalisiere die Geschichte.

61. Sauls Kopf ragt durch den Bühnenboden, sein Körper abgeschnitten unsichtbar unter der Bühne. Ein letztes Mal blickt Saul aus der Ebene des Schlachtfeldes heraus, auf dem er gerade stirbt, während die schwarzen Körper wieder daniederliegen. Übrigens liegt das historische Schlachtfeld runde 25 Kilometer westlich von Bethlehem im Elah-Tal.

62. Für ihren Vater Saul stimmt Tochter Merab das letzte Heldenlied an. Ebenso David für Jonathan: Vom Tod beflügelt flog sein Pfeil … Als israelisches Sonderkommando befreite Netanjahus Bruder Jonathan im Jahre 1976 die Geiseln des von Palästinensern entführten Air France Fluges 139 in Uganda. In Israel benannte man die Operation Entebbe in Operation Jonathan um, weil Jonathan das einzige Sonderkommando war, der bei der Aktion ums Leben kam. Vom Tod beflügelt flog sein Pfeil. Nun ja, wer den Tod sät …

63. Schwester Michal stimmt ein: In süßester Harmonie lebten sie, auch der Tod konnte ihre Verbindung nicht trennen, der fromme Sohn wich nie von der Seite seines Vaters, sondern starb tapfer, als er ihn verteidigte, ein Verlust, der zu groß war, um ihn zu überleben.

64. Der Chor schreitet vor den Vorhang, oh fataler Tag, Israel wohin ging Dein Ruhm? Das ist der Nationalepos, der sich am 14. Mai 1948 nochmal manifestierte.

65. Und weiter gehts mit der Gewaltbeschwörung, diesmal an David, den neuen Killer und Staatsgründer: Gürte Dein Schwert, Du Mann von Macht, verfolge Deinen gewohnten Ruhm, geh weiter, sei erfolgreich im Kampf, gewinne den hebräischen Namen zurück … blablabla, bis sie Deine gerechte Herrschaft anerkennen. Sure that. Das Sechserballett tanzt ein verzücktes Schwebe-Tänzchen, der Chor der schwarz gekleideten 40 schreitet zur Bühnenfront, sie heben die Hände, sie knien. Dann heben sie David in die Höhe, ihren neuen König. Merke: Gewinne den hebräischen Namen zurück.

66. Überschwenglichster Applaus, Jubel, Schuhetrampeln. Welch ein Ensemble. Was für eine Aufführung. Christopher Purves unvergesslich. Von Iestyn Davies muss man sich eine CD sichern. Sarah Brady buchen, wo es geht. Und den Chor hören, am besten so oft bezahlbar. Barrie Kosky hat recht, wenn er sagt, dass Händels Stücke nicht nur von der stimmlichen Virtuosität der Sänger leben, sondern vor allem auch von ihrer Persönlichkeit. 

Glyndebourne, ein Erlebnis auf mehreren Ebenen. Weltklasse-Oper mit elegantem Sommerpicknick. Saul, ein opernhaftes Oratorium, welches öfter gespielt werden sollte. Dazu sollte man Saul erstmal in Opernführern listen. Das New Grove Dictionary of Opera von Stanley Sadie (1998) führt Saul ebenso wenig auf wie Kobbe’s Complete Opera Book des Earls of Harewood (1987).

Wie weit entfernt ist nun der Nationalepos der Israeliten von der Idee der völkerverständigenden Schneller-Schulen wie derjenigen, die mein Hausarzt Basil Rischmaui in Bethlehem besuchte? Überzeugte Juden im Israel des Jahres 2025 zerstören den Palästinensern dessen heilige Olivenbäume, um sie im Mark zu treffen. Im Deutschland des Jahres 2025 applaudiert die Intelligentsia, wenn der Rettungsschwimmverein DLRG Menschen ausschließt, weil sie die falsche Meinung haben.

Der Deutsche Missionar Schneller nahm Waisenkinder auf, ohne nach der Religion zu fragen. Basil Rischmaui zog zwar aus Bethlehem weg, brachte aber die positive Geisteshaltung mit in seine neue Heimat Libanon und dann nach Deutschland. Wikipedia berichtet aus Bait Sahur, wie während zweier Intifadas das hier ansässige Palestinian Center for Rapprochement between Peoples (PCR) unter George Rishmaui zu gewaltfreien Aktionen aufrief. Als Zeichen der Versöhnung habe das PCR während der ersten Intifada in der Aktion „Break Bread, Not Bones“ = „Brich Brot, nicht Knochen“ Israelis zu einem Schabbat bei palästinensischen Familien eingeladen.

Und Elias Rishmaui als Stadtrat von Bait Sahur sei Mitbegründer der Alternative Tourism Group (ATG), einer Nichtregierungsorganisation, die Reisen nach Israel und Palästina anbietet. Während Benjamin Netanjahu zum tragischen Held Saul’scher Güte avanciert, kamen aus dem zuletzt arg gebeutelten Bethlehem in der letzten Zeit versöhnliche Töne.

Genau das ist meine diesjährige Weihnachtsbotschaft: Brich Brot, nicht Knochen. Lasst uns Nationalepen hintenanstellen, vor allem diejenigen, die auf Gewalt beruhen, und das tun sie fast alle. Lasst uns nicht gewonnene Schlachten als Höhepunkt unserer nationalen Feiern betrachten. Lasst uns unsere nationale Emanzipation nicht durchs Töten errreichen. Lasst uns Religion und Staat trennen. Wer Brot hat, soll teilen. Wer Notleidenden das Leben retten will, soll das tun dürfen. Und wer getötet wird, soll den Tod nicht mit Tod vergelten.

Gepflegte Picknickzeit in der Pause im Glyndebourne-Park. Bildrechte: Rainer Winters

 

Der Glyndebourne-Park leert sich. Bildrechte: Rainer Winters