München | analogo.de – Im elften Teil unserer Serie „Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern in Zentraleuropa“ steht heute ein Besuch des rokokoen Cuvilliéstheater in München auf dem Programm. Die Opern des Abends: Der Mond von Carl Orff und Lucrezia von Ottorino Respighi. Anlässlich von drei Ereignissen, nämlich Carl Orffs 130. Geburtsjahresjubiläum, dem diesjährigen Tag des asiatischen Mondfestivals und dem gestrigen Vollmond, beleuchten wir den mondbezüglichen Teil des Opernabends vom 24. April 2024. analogo.de war beim Opernereignis zugegen und berichtet im ANA LOGO Long Read.
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Als Hausherr des Cuvilliéstheaters wählte das Bayerische Staatstheater für Carl Orffs Erstaufführung von Der Mond einen Vollmondtag. Sicher kein Zufall. Es ist der 24.04.2024, ein Vollmondtag gestern vor 18 Vollmonden.
Wenn wir den Mond verbildlichen, zeigen wir ihn gerne in seiner voll erleuchteten Form. In Carl Orffs Oper lernt man, dass wir nicht unbedingt davon ausgehen können, dass der Vollmond auch tatsächlich leuchtet.
Das ist zum Beispiel nicht der Fall, wenn er gestohlen wird, in diesem Fall vom Bürgermeister. Dieser Naturpirat lässt den Mond nur dann leuchten, wenn andere ihn dafür bezahlen. Dann gießt er fleißig Öltreibstoff auf den Mond. Der Bürgermeister verkauft also die an sich frei verfügbare Natur an andere, ganz vergleichbar wie Vogelfrauen in Myanmar Singvögel aus dem Käfig die Freiheit schenken, nachdem man sie dafür bezahlt hat.
Dem Zyklus aus Freiheit und Gefangenschaft können burmesische Singvögelgemeinschaften derzeit nur schwer entkommen. Immer wiederkehrende Zyklen haben etwas Schicksalhaftes an sich. Wenn die Zyklen so verlässlich regelmäßig erscheinen wie die Mondphasen, dann verschmelzen Natur und Schicksal. Die Mondphasen geben uns Halt und einen Sinn für die natürliche Ordnung, weil sie immer wieder kehren.
Wir können uns darauf verlassen, dass uns auch der nächste Vollmond mit großer Wahrscheinlichkeit schlechter schlafen lässt als der Neumond vor vierzehn Tagen. Bei Vollmond sind viele Menschen nervös. Streifenpolizisten verdrehen die Augen, weil es an solchen Tagen zu mehr Schlägereinen und Gewaltausbrüchen kommt.
Jede Mondphase hat etwas für sich, steht für einen besonderen Zauber. Mit dem Neumond ist der Himmel leer und die Nacht pechschwarz. Der Neumond steht für das Verborgene, das Unsichtbare oder die Unterwelt. Mangels Licht aber auch für die Geburt, die Wiedergeburt, die Gründung oder die Wiedereröffnung. In allem Neuen liegt ein Zauber.
Carl Orff bezügliche Neumond-Ereignisse wären demzufolge:
- die Geburt Orffs vor 130 Jahren in München
- die Gründung der Carl Orff-Festspiele Andechs im Jahre 1998
- die bevorstehende Eröffnung des Carl Orff Museums in Dießen am Ammersee nahe München in vier Wochen am 02. November 2025
- die Uraufführung von Mozarts Oper Idomeneo im Jahre 1781 im Cuvilliéstheater (damals hieß es noch Hoftheater)
- die Uraufführung von Orffs Mondoper im 150 Meter benachbarten Nationaltheater im Jahre 1939
- der opernstilbildende Einfluss Claudio Monteverdis auf Carl Orffs Schaffen 300 Jahre später
- die Wiedereröffnung des Cuvilliéstheaters durch König Maximilian II. Joseph im Erfindungsjahr der Weißwurst 1857
- die Wiedereröffnung des Cuvilliéstheaters zur 800-Jahr-Feier Münchens 1958
- die Wiederaufnahme von Opern im Cuvilliéstheater nach drei Jahren Abstinenz an ebendiesem 24. April 2024
- die Premiere der Mondoper für das junge Ensemble des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper
Steht der Neumond also für einen Anfang, ist der Vollmond Sinnbild für die vollreife Hochwertigkeit, die Show im vollem Lichte. Zwischen Neumond und Vollmond stehen die Phasen des zunehmenden Mondes. Auf der Nordhalbkugel wird jetzt der rechte Teil des Mondes als Sichel sichtbar. Unserer Mondgeschichte folgend, stellen sich mit dem ersten Licht die ersten Erfolge ein.

Im Kontext des Opernabends ist hier das Opernensemble zu nennen. Es ist die Nachwuchstruppe der Bayerischen Staatsoper. Das Förderprogramm heißt Opernstudio und es richtet sich an junge Sänger im Alter von unter 28 Jahren. Das Besondere an diesem Programm: Die jungen Leute sind alle fest engagiert.
Die Bühne ist klein, wir sehen eine Oper mit Minimalbesetzung. Wir zählen daher nur sieben Hauptdarsteller: Den schottischen Erzähler Liam Bonthrone (Tenor), den chinesischen ersten Burschen Haozhou Hu (Tenor), den brasilianischen zweiten Burschen Vitor Bispo (Bariton), den deutsch-amerikanischen dritten Burschen Gabriel Rollinson (Bariton), den polnischen vierten Burschen Pawel Horodyski (Bass), den britischen Bauern Thomas Mole und den mexikanischen Heldenbariton Daniel Noyola (er spielt den Petrus).
Nicht wenige Absolventen des Operstudios landen auf den großen Bühnen. Der Tenor Freddie De Tommaso ist einer von ihnen. In der Pause treffen wir eine andere Absolventin, die freischaffende Sopranistin Jasmin Delfs aus Kiel. Delfs wurde in derselben Stadt geboren wie der Komponist Carl Maria von Weber, nämlich in Eutin. Orff kennt sie aus ihrer Rolle aus Carmina Burana.
In München, Berlin und Salzburg brillierte Delfs als Papagena in Mozarts Zauberflöte. Vom Sprungbrett Opernstudio zog es Delfs vor rund zwei Jahren an die Mailänder Scala, mithin den Ort der Uraufführung von Respighis Oper Lucrezia. Hier sang sie die Blonde in der Entführung aus dem Serail. Vom Ensemble der Alma Mater Opernstudio ist die Kielerin begeistert. Die jungen Leute gäben sich noch Mühe, so die Absolventin des Opernstudios.
Das Ringen nach erster Aufmerksamkeit des Nachwuchses ist wie die Phase, in der der Mond nur wenig Licht abbekommt. Zum gedrehten Lebensrad gehören Rückzug und Wiederabstieg vom illuminierten Gipfel. Auf dem Weg vom Vollmond zum nächsten Neumond verliert der Mond an aufmerksamkeits-erheischenden Lichtes.
Beim abnehmenden Mond laufen die Dinge auf andere Weise wie am Anfang. Die Aufmerksamkeit verblasst, es ist die Zeit zum Loslassen. Mondgärtner pflanzen beim abnehmenden Mond wurzelentwickelnde Pflanzen wie Karotten, Radieschen, Knoblauch oder Kartoffeln, weil jetzt der Saftfluss nach unten verlagert wird.
Orff sah in seiner Oper Der Mond seinen Abschied von der Romantik. Und wegen „schwerwiegenden und nicht mehr zu überbrückenden Differenzen zwischen dem Kloster Andechs und der Carl-Orff-Stiftung wurde das Carl-Orff-Festival vor zehn Jahren gestrichen. Die letzte Aufführung fand am 26. Juli 2015 statt. Es war nicht Orffs berühmteste Komposition Carmina Burana, sondern die melancholische Oper Der Mond.
Carl Orff wurde an einem 10.07. geboren. Der gestrige Vollmondtag war der 07.10. Die linksseitige Sichel des abnehmenden Mondes ist wie ein Spiegel der rechtsseitigen Mondsichel des zunehmenden Mondes. Der 10.07.1895 war ein Tag mit abnehmendem Mond, Orffs Todestag des 29. März 1982 war ein Tag mit zunehmenden Mond.
Von Insidern und Psychopomps
Steht das Ende des einen bevor, öffnen sich in der Regel neue Türen für etwas Neues. Das Alte wird zu Grabe getragen. Wie die Walküren in nordischen Mythen gefallene Krieger vom Schlachtfeld nach Walhalla führen, geleiten Psychopomp genannte Seelenführer wie die altgriechische Göttin Hekate die Verbleichenden von der Oberwelt in die Unterwelt. Und das Rad dreht sich immerfort.
Apropos Walhalla: Aus diesem deutschen Tempel holten die Manager der Bayerischen Staatsoper in Sicherheit gebrachte Holzvertäfelungen zurück ins Cuvilliéstheater. Man hatte sie dort gelagert, um sie vor den Zerstörungen des 2. Weltkrieges zu schützen. Als man sie zurückholte, waren die Holzvertäfelungen zerbröselt. In mühevoller Arbeit konnten Vertäfelungen pünktlich zur 800-Jahr-Feier der Stadt München und gleichzeitigen Wiedereröffnung des Cuvilliéstheaters im Jahre 1958 wieder hübsch restauriert werden. Hier schmücken sie die Fronten des Rokoko-Theaters noch heute. München habe sich da „beschenkt“, sagt uns eine Opernbesucherin.
Ein dritter Insider öffnet uns sein Herz: Na dass man hier jetzt endlich wieder Opern zu sehen bekommt. Heute sei es das erste Mal seit drei Jahren. Im Cuvilliés laufe so gut wie „nix“ mehr. Er habe auch überlegt, in Aida nebenan zu gehen, aber da ginge es zu sehr um Krieg. Nur noch Krieg an Münchner Bühnen.
Jonas Kaufmann würde da jetzt singen. Er kenne ihn aus seiner Gesangsklasse vor 30 Jahren. Kaufmann habe dann irgendwo Vorsingen gehabt, hätte aber niemandem erzählt, wohin er ginge. Später stellte sich heraus, dass es Saarbrücken war. Die damalige Gruppe meinte, Kaufmann habe nicht die beste Stimme in der Gruppe gehabt. Eigentlich hatte er ja auch Mathematik studiert, und seine Eltern wussten nicht, dass er sich Musikstudien widmete.
Ja und dass man hier jetzt den Mond mit Ottorino Respighis Qual-Oper Lucrezia verbinde, das sei ganz grässlich. Der Mann findet unsere Zustimmung. Aufgrund der Grausamkeit der Bilder und Botschaften blenden wir jenen Teil des Abends selektiv aus, und beleuchten vielmehr den märchenhaften Teil des Abends.
Mit 90 Minuten Spieldauer ist Orffs Oper Der Mond eine recht kurze Oper, weswegen Carl Orff mehrfach meinte, diese Oper spiele man am besten zusammen mit einer anderen. Gerne verknüpfte man sie in der Vergangenheit mit Orffs anderer Märchenoper über die kluge Bauerntochter. Heute abend jedoch mit einer Qualoper.
Da sich im Augenblick kaum jemand mehr mit Qualen auskennt als die Menschen in der Ukraine, verwunderte es nur wenige, dass die Wahl für die Inszenierung auf jemanden aus der Ukraine traf: Tamara Trunova vom Left Bank Theater in Kiew. In der Verküpfung mit der Lucrezia gerät Trunovas Debut an der Bayerischen Staatsoper zur Entzauberung des Orff’schen Märchens, mithin an just jenem Ort, an dem Der Mond 85 Jahre zuvor uraufgeführt wurde.
Toben sich Opernregisseure mit Wonne beim Bühnenbild aus, lassen sie Texte und Musik weitestgehend so, wie sie einstmals komponiert wurden. Der bayerische Dichter Jean Paul Friedrich Richter (auch bekannt als Jean Paul) meinte, Musik sei das Mondlicht in der düsteren Nacht des Lebens. Und so schien glücklicherweise auch an diesem Abend die Musik im Sinne des Carl Orff.
Im Gegensatz zum Sado-Maso-Bühnenbild der Lucrezia war das Bühnenbild zum Mond gelungen. Aufwendig kreierte Trunova mit Linda Sollacher (Bühne), Eva-Mareike Uhlig (Kostüme) und Benedikt Zehm (Licht) einen märchenhaften Rahmen, eine scherenschnittartige Burg zentral auf der Bühne positionierend.

Genug der Einleitung, kommen wir zur Vorstellung.
Das Drama des Abends sei wieder anhand unserer berühmten #Erlebnisschnipsel erzählt.
Los gehts:
1. Die Singsprache des Abends ist auf Deutsch. Soweit so gut. Aber die Übertitel ebenfalls. Das ist unnötig, denn wer den Text genau mitverfolgen möchte, hat das Libretto im Programmheftchen zur Hand. Was wäre, wenn sich im Cuvilliés ein paar Gäste verirrt hätten, die kein Deutsch sprechen? Hätte man hier nicht besser englische Übertitel gewählt?
2. Der Vorhang hebt sich. Auf der Bühne derselbe Modellwald, den wir eben bei Lucrezia sahen. Der Mond hängt leuchtend in der Luft. Rote-grüne Illuminationen. Wir sehen vier junge Männer mit einer Melone auf dem Kopf. Die Kostümerie wie inspiriert von einer Varieté-Show aus dem Jahr von Orffs Uraufführung 1939.
3. Links der Bühne steht der Erzähler in einer Loge und leitet ins Märchen ein. Welch eine kräftige Stimme der Schotte Liam Bonthrone hat …
4. Schon gleich lässt xylophon-beschwingte Musik Orffs Fokus zur Rhythmik durchschimmern: Da-di-da, da-di-da, da-di-da.
5. Dafür hatte es Orff nicht so mit Melodien. Wir vernehmen Sprechgesänge. Die vier Burschen sehen den leuchtenden Mond, was sie aus ihrem mondlosen Land nicht kennen. Zehnmal fragen sie: Was ist das? Was ist das? … für ein Licht?
6. Jetzt endlich singt auch mal der Chor. Es sind die 12 Sänger und Sängerinnen des Abends vom Projektchor der Bayerischen Staatsoper, begleitet von einem viel zu lauten Bayerischen Staatsorchester, heute abend geleitet von der Münchnerin Ustina Dubitsky.
7. Ein zwei- bis dreiminütiges Becken- und Paukengewitter. Orff liebte Rhythmus, OK, aber das jetzt geht fast nur mit Petersilie im Ohr.
8. Ein typischer Dialog aus der Feder Carl Orffs: Sagt einer: Haut denen doch die freche Fresse zu! Sagen die vier Burschen: Ihr Hunde, Schufte, Höllendreck! Wir nehmen Euch die Lampe weg. — Immerhin ist es eine Art Reim geworden.
9. Der Chor philosophiert: Jeder spielt ein falsches Spiel, keiner kommt damit zum Ziel.
10. Wir haben es nicht nur mit einem Mini-Ensemble zu tun. Es singen auch fast nur Männer. Und die wenigen Frauen (im Chor), die dabei sind, tragen dieselbe graue Kleidung der Männer.
11. Das nun helle Licht leuchtet bis tief in die Ränge des wunderschönen Rokokotheaters. Blicke schwenken von links nach rechts, dann auch nach oben an die Decke. Das Cuvilliés der theatergewordene Traum reinster Kunstarchitektur.
12. Der Schlagzeuger jetzt recht übereifrig bei der Sache, das Xylophon vibriert. Vitor Bispo wird später in einem Kommentar sagen, das wir es hier aber auch wirklich mit einer intensiven Musik zu tun haben.
13. Jetzt philosophiert Petrus: So ist’s nun mal auf dieser Welt, ein jeder ist wo hingestellt, ein jeder hat so seinen Platz. […] und diesen Platz muss er ausfüllen, ob er’s gern tut, ob wider Wiiilllllllllllen.
14. Während Scheinwerfer wabernden Rauch über dem Orchestergraben hervorheben, führt Petrus weiter aus: Seltsam ist das ganze Leben, denn das Meiste geht daneben. […] Und weiter: Hört Ihr, wie sich das Weltrad dreht, bis es einmal stille steht? Orff hatte es mit der Philosophie, abzulesen unter anderem an seiner extensiven Beschäftigung mit der altgriechischen Mythenlehre samt all ihrer Weisheiten.
15. Nun greift Petrus in der Unterwelt durch. Ein Appell an die toten Diebe des Mondes: Hört Ihr Toten, lasst Euch sagen, längst hat Eure Stund geschlagen.
16. Kraft seines Amtes nimmt Petrus den Mond aus dem Jenseits mit und hängt ihn wieder dort auf, wo er hingehört.
17. Im Theater gehen die Lichter an. Ist es jetzt vorbei?
18. Die Schönheit des Rokokotheaters verschmilzt mit der illuminierten Bühne. Die ganze Inszenierung dieser Szene so verspielt süßlich. Was soll man da noch sagen? Vielleicht: Das war ja so was von Rokoko.
18. Aber es ist nicht das Ende. Die Lichter gehen wieder aus. — Und dann wieder an, aber diesmal nur der Mond. Jetzt erstrahlt nur der schimmernde Vollmond das ganze kleine königliche Rokokotheater. Kann man das Cuvilliés besser in Szene setzen? Wir meinen: Nein, und sagen Danke schön.
