Ostrava bzw. Mährisch-Ostrau | analogo.de – Lesen Sie hier Teil 3 unserer Sommerserie Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern Zentraleuropas und fühlen Sie mit uns nach, welche musikalischen und kulturellen Elemente die Völker Zentraleuropas verbindet. Am 02. April 2024 besuchen wir das Antonín-Dvořák-Theater, also das Opernhaus von Ostrava. Im doppelten Jubiläumsjahr des Nationalkomponisten Bedřich bzw. Friedrich Smetana führt das Theater in zwei Zirkeln seine kompletten acht Opern auf. Vor genau 200 Jahren wurde Smetana geboren und er starb vor 140 Jahren. Im Jubiläumsjahr der tschechischen Musik erleben wir heute eine Produktion des Mährisch-Schlesischen Nationaltheaters von Smetanas sechster Oper, Hubička bzw. übersetzt Der Kuss. Der ANA LOGO Long Read.
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Vom polnischen Wrocław bzw. Breslau folgen wir per Zug dem Flussverlauf der Oder bis ins 250 Kilometer entfernte Ostrava bzw. Mährisch-Ostrau, der drittgrößten Stadt Tschechiens. Die Zugfahrt ist äußerst entspannt, ganz anders als die Reise in den übervollen und bedrohlichen Eisenbahnen, die wir später in Österreich und Deutschland über uns ergehen lassen müssen.
Wir landen in einer wohlhabenden Stadt, die auch Big City 3.0 von Tschechien genannt wird. In der Stadt gepflegte Parkanlagen mit überbordenden Blumenarrangements, überall beeindruckende alte Architektur, in den Gassen gut situierte Herrenausstatter. In den Lokalen sitzen Familien, Ältere und Jüngere zusammen und treffen sich in entspannter Atmosphäre auf ein Bier (und eine Limonade :-).
In Ostrava wurde vor ein paar Wochen nicht nur die Eishockey-Weltmeisterschaft ausgetragen, sondern sie ist auch ein echter Musik-Hotspot in diesem Teil Zentraleuropas. Neben dem neobarocken Opernhaus gibt es zahlreiche andere Musiktempel, zum Beispiel die Janáček-Philharmonie. Petr Popelka, der neue Chefdirigent der Wiener Symphoniker, fungiert hier als einer der Gastdirigenten.

Die Verbindung der Menschen in Ostrava zu den Nationalkomponisten Tschechiens ist eng. Einer der TOP 5 tschechischer Komponisten, Leos Janáček, hat eine besondere Verbindung zu dieser Stadt, vor 96 Jahren starb er in einem hiesigen Sanatorium. Seit ein paar Jahren wird hier im Dreiländereck Tschechien/Polen/Slowakei das Leoš Janáček International Music Festival ausgetragen. Das Dvořák-Opernhaus führt in diesem Jahr – als einziges Opernhaus weltweit – alle acht Opern Smetanas am Stück auf.
Für viele Kenner hat Dvořák die besten Sinfonien und Konzerte aller tschechischen Komponisten geschrieben. Und nicht für wenige ist Janáček der beste Komponist des 20. Jahrhunderts überhaupt. Doch keiner dürfte das so typisch Tschechische gestaltet haben wie Bedřich Smetana, der als deutsch-sprachiger Friedrich Smetana aufwuchs. Dvořák, Janáček und auch Bohuslav Martinů orientierten sich in ihrem Schaffen stark an Smetana.
Mit dem Zirkel aller acht Opern will Intendant Jiří Nekvasil Smetanas Opern „Relevanz“ in der Welt von heute geben. Dies erinnert an die Bildung einer eigenen nationalen tschechischen Musikschule im 19. Jahrhundert. Den anderen zeigen, was am Eigenen so besonders ist.
Abgesehen vom Tschechischen an sich eilt den Menschen um Ostrava der Ruf voraus, sie würden sich stärker zu ihrer Region hingezogen fühlen als zu ihrem Land. In der Gegend werden Dialekte gesprochen, die vom Rest Tschechiens kaum geteilt werden. Der Lachische Dialekt der Walachei ist ein solcher. Im nahen Kuhländchen sprechen die Menschen einen besonderen schlesischen Dialekt, der hier seit dem 13. Jahrhundert gepflegt wird. Leoš Janáček schrieb seine bekannte Oper „Das schlaue Füchslein“ in einem Dialekt der nahe gelegenen Stadt Brno bzw. Brünn. Tatsächlich erfreut sich die Gegend rund um Ostrava eines inner-tschechischen Stereotypes, ein unverständliches lustiges polnisch-ähnliches Kauderwelsch zu sprechen.
Im Gegensatz zu Dvořák und Janáček verwendete Smetana weniger Volksmelodien und -tänze, sondern schuf idiomatische Böhmen- bzw. Tschechenbezüge durch lokale Geschichten und Orte. Die Handlung des Kusses spielt im schlesischen Riesengebirge und Smetana vertont ein ganz alltägliches Liebes- und Streitdrama gänzlich normaler Menschen. Hierin erinnert Smetana an den Verismo Puccinis, der sich von der Sitte absetzte, in einer Oper nur Geschichten von Göttern, Königen und griechischen mythologischen Figuren zu behandeln.
Heute abend im Antonín-Dvořák-Theater mutet die Choreographie durchaus folkloristisch an. Bühnendirektor Jiří Nekvasil bezirzt mit heimatlicher Landidylle und bukolischen Figuren in Bauernkostümen.

Dass man eine naturnahe Handlung auch verhunzen kann, zeigt die momentane Produktion der tschechischen Märchenoper Rusalka an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Dass Jubeldeutsche die Produktionen an ihren prominenten Opernhäusern in den Himmel heben, kann nicht über die weithin trostlos-grauen Inszenierungen an deutschen Bühnen hinwegtäuschen. Angesichts einer „schmuddeligen Erdgeschosswohnung“ und einer allgemeinen Hässlichkeit spricht das Musikmagazin concerti im Falle von Rusalka von einem entzauberten Märchen.
Nur allzu oft verstehen Deutsche das Tschechische nicht, sie verhunzen es, nehmen es gar nicht wahr oder schlicht für ihre Sache in Anspruch. Die gute Verbindung der Bayerischen Staatsoper mit dem tschechischen Kulturbetrieb mag zwar dabei helfen, den Opern Smetanas „Relevanz“ in der Welt zu verschaffen. Doch den Geist des Tschechischen erfasst man am besten durch einen Besuch einer tschechichen Oper auf tschechisch in Tschechien.
Die Oper: It should have started with a kiss
Und wie sich das lohnt. Vendulka verweigert ihrem Verlobten Lukáš einen Kuss vor der Hochzeit. Der außereheliche Kuss könnte ja seine verstorbene Ehefrau bekümmern. Im wahrsten Sinne des Wortes, ein Küsschen in Ehren, mag niemand verwehren.
Doch Lukáš mutmaßt, die Sorge um seine verstorbene Ex sei Vendulka wichtiger als seine Sorgen. Lukáš verhöhnt Vendulka, solle sie doch gehen, er bekäme schon eintausend andere Küsse. Vendulka sieht sich bis ans Ende ihrer Tage in Ungnade gefallen und flüchtet in den Wald zu Schmugglern.
Doch irgendwann heißt sie – mit einigem Abstand – ihren Lukáš willkommen, der sie sucht. Vendulka ist nun so berührt, dass sie ihren Hass auf Lukáš in ein Verlangen wandelt, ihn zu küssen. Doch nun will der nicht mehr – zumindest bevor er sie um Vergebung gebeten hat. Mit dem Kuss in Ehren endet die Volksoper.
Die Hälfte der Sitzplätze sind heute abend nicht belegt. Mit Entzücken sagt unsere Nachbarin, sie habe schon fast alle der acht Opern gesehen. Wir versuchen einen Small Talk auch mit anderen Gästen, die um uns herum sitzen. Dies schlägt fehl, da kein anderer Englisch oder Deutsch spricht. Das Tschechisch auf der Bühne verstehen wir nicht, aber links und rechts der Bühne sind großzügig und unaufdringlich zwei Bildschirme angebracht, die die englische Übersetzung des Librettos anzeigen.
Absolut vorbildlich gegenüber etwa der Bayerischen Staatsoper mit all ihren internationalen Gästen, die froh sein können, wenn sie den winzigen Text auf den kleinen Bildschirmen lesen können, die über ihnen angebracht sind. Oder gegenüber der Wiener Staatsoper, wo die zwar schon besseren kleinen Bildschirme Übersetzungen in verschiedenen Sprachen anbieten, wo man sich aber entscheiden muss, ob man in Richtung Bühne oder Bildschirm blickt.

In Ostrava darf man noch in die Oper gehen, wenn man Träume sucht. Ein roter Vorhang, rote Plüschsitze, die Farbgebung in crème-golden, eine stimmungsvoll beleuchtete Bühne. Das Bühnenbild, einfach schön. Muss man das komplizierter sagen? Es geht um die Liebe, um Sehnsucht, um Verzweiflung und Hoffnung. Ja das kann Oper sein.
Der Vorhang hebt sich, gefällige leichte Opernmusik. Endlich geht es mal nicht um den Tod, wie so bei vielen anderen Opern. Das maximal Tragische heute abend ist, dass die Liebenden nicht zusammen kommen. Paloucký, Vendulkas zweifelnder sowie charakterreicher Vater, will vermitteln, macht sich berechtigte Sorgen. František Zahradníček singt im tragischsten Bass: Dies mag mein letzter Rat sein. Die Schwere weicht einer filmgleichen Lebendigkeit. Die Bühne kocht.
Was nur trennt die beiden Liebenden? Liegt es an ihm? Das Gerücht kommt auf, er sei sündenbesessen. Eigentlich ist die Sache doch klar, auch wenn die Lippen Angst haben, es zu sagen. Chormeister Jurij Galatenko lässt seinen Chor hauchen: Du bist meines. Wir sind füreinander bestimmt.
Doch der Streit der sich doch eigentlich Liebenden weitet sich immer weiter aus. Erinnerungen an die Aussage der alten Dame aus Wrocław werden wach: „Alle lügen, alle streiten, alle schlagen“.
Auf einmal wird die Dramatik unterbrochen. Vendulka singt zwei Wiegenlieder. Eines für das Baby und eines für die verstorbene Mutter. Welch ein Opernmoment, den Augenblick höchster streitlicher Erregtheit mit den Symbolen mütterlicher Liebe zu entschärfen. Genau dies schätzte Gustav Mahler so an dieser Oper Smetanas, diese geradezu kontrapunktische Raffinesse im Stile der Operndramatiker Verdi und Wagner.
Da sitzt sie nun, die Einsame mit dem halbverwaisten Säugling von Lukáš. Sei es einem Aberglauben entsprungen oder einem kulturellem Brauch, Vendulka will sich ehrenvoll binden. Ihr Mann in spe scheint da nicht so pingelig zu sein, er wird sich aus verletztem Stolz gleich die Nächste nehmen.
Währenddessen spricht Vendulka mit dem schicksalshaft getroffenen Baby der Verstorbenen. Ach, Dein Mütterchen schläft in ihrem Grab. Ach, maticka ti v hrobě spí! Süßlich-melodisch erklingen Klarinette und Hörner. Welch eine Arie und so sanft von Veronika Rovná gesungen. Was Lukáš wohl denken mag? Bestimmt wird er zur Vernunft kommen. Však on se smíří!

Denkste. Ihr Lover ist ein barscher Narzisst. Wie er Vendulka nach dem Wiegenlied schänden wird. Ach, Dein Mütterchen schläft in ihrem Grab. Über die Versenkung in die große Tragik vergißt Vendulka ihr Liedlein.
Doch dann setzt sie zu einem weiteren Wiegenlied ein – diesmal für die Verstorbene. Kompositorische Schönheit. Ein bisschen wie es Mozart gesagt hat: „Die Musik liegt nicht in den Noten, sondern in der Ruhe dazwischen.“
Flieg in den Himmel, Du kleine Seele. Dolet si dušinko aš do nebe. Sei nicht betrübt, ich werde an Deiner Stelle zu Deinem Baby gehen. Já pujdu k dětátku místo tebe. Zarte Bläsertöne erklingen, hölzerne Oboe und Fagott, leichtere Flöten. Alles ist im Fluss, panta rhei, es wird schon, aber fließen muss es. Die Violinen übernehmen die weichen Bewegungen. Mutterseelenallein, harmlos und unbescholten wie sie sind, schlafen Vendulka und das Baby ein.
Nicht nur die Musik ist hier kontrapunktisch verfasst, nun wechselt auch die Handlung von Hell zu Dunkel. Der Haudrauf taucht auf, bringt noch die Dorftrottel von der Blaskapelle mit und im Rhythmus eines hüpfend-böhmischen Polkas verhöhnt er Vendulka.
Warum nur suchen sich Frauen so oft einen Haudrauf als Partner? Fehlende Menschenkenntnis? Schlägt da die Biologie zu? Oder weil die Menschen in diesem Teil Europas überwiegend der Meinung sind, dass man den meisten Menschen nicht vertrauen kann?
Die Scheidungsraten in Tschechien sind enorm hoch, noch einiges höher als in den Nachbarländern Polen, Deutschland, Slowakei, Österreich oder Ungarn. Google-Suchanalysen zeigen, wie nur wenige andere Nationalitäten so nach der Liebe forschen wie die Tschechen. Ich werde tausend Küsse bekommen, höhnt der vermeintlich Verletzte und küsst eine andere Frau. Der Chor haucht: Er hat ihren Stolz bestraft.
Schön wie eine Lerche singt Veronika Rovná die nächsten Passagen der Vendulka. Nicht grell sondern in starken und warmen Soprantönen. Ich bin fertig mit der Liebe! Weg, weg, die Scham brennt, und die Liebe ist verrückt! Fort, fort! Ein starkes Libretto von Eliška Krásnohorská. Der Vorhang fällt.
Der 2. Akt. Die Ouvertüre wie Filmmusik. Ein Ennio Morricone? Ein Thomas Newman? Nein, ein Bedřich Smetana, dirigiert von Musikdirektor Marek Šedivý. Das Bühnenbild eine minimalistische Waldlandschaft. Jen dál, let’s go, und sanft auf dem Moos. Die Schmuggler ziehen langsamsten Schrittes über die Bühne. Ein Leitmotiv ertönt, 1 2 3 4 5 – in abfallender Tonfolge.

Lukáš lamentiert: Und meine Seele, verbannt aus dem Paradies … Orchestrale Spannungsspitzen, dit dadada. Lukáš sucht Vendulka, irgendwo hier muss sie sich doch verstecken – in ihrem Kummer. Irgendwann finden sich die bekümmerten Liebenden – und Ostrava freut sich auf ein Happy End.
Gustav Mahler, der in Böhmen geborene und doch sich ewig heimatlos fühlende Komponist, liebte den Kuss und schwärmte von der Musik der reinsten Gefühle und der schmerzhaften Schönheit. Smetana allerdings konnte seine Oper nicht mehr hören. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits ertaubt.
Beschwingt von melodie-gesättigter Lyrik und mit dem Gefühl belohnt worden zu sein, verlassen wir Ostrava. In nur 48 Stunden haben wir eine Menge über Land und Leute erfahren – auf musikalischem Wege.
Das Jubiläumsjahr der tschechischen Musik 2024 dauert noch an. Vor 200 Jahren wurde Smetana geboren, vor 170 Jahren Janáček, vor 150 Jahren Josef Suk und vor 250 Jahren Wenzel Johann Tomaschek. Vor 140 Jahren starb Smetana und vor 120 Jahren Dvořák. Im Verlaufe des Jahres gibt es im Land noch viele Möglichkeiten nachzuspüren, in welcher Hinsicht diese kleine Nation so viele hervorragende Musiker hervorgebracht hat.
Für uns heißt es Abschied nehmen. Mit dem Taxi gehts zum Bahnhof und von dort nach Wien. Der Taxifahrer hilft uns beim Herausheben des Gepäcks aus dem Kofferraum und verabschiedet sich – mit einem Küsschen auf die Wange. It ended with a kiss.