Wrocław bzw. Breslau | analogo.de – In einer Verschiebung der üblichen Kulturkoordinaten von Westeuropa in Richtung Osten hat unsere Redaktion einen Monat lang großartige Konzert- und Opernhäuser Zentraleuropas besucht. Die großartigen westeuropäischen Konzert- und Opernhäuser in der Schiene Bordeaux, Paris, Mailand, Zürich, Strassbourg, Wiesbaden ließen wir dagegen links liegen. Im ersten Teil unserer Sommerserie über klassische Musik zieht es uns nach Wrocław in den Westen Polens. Hier hören und sehen wir das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 626), in einer sensationellen Verquickung von Seelenmesse und Ballett.
Neben einer Besprechung des aufgeführten Stückes lautet die Frage unserer sommerlichen Artikelserie, welche musikalischen und kulturellen Elemente die Völker Zentraleuropas verbindet. Wir spüren Eigenarten der Länder, der Opernhäuser und Menschen nach und erzählen Geschichten über die Macher der Musik. In aufgewühlten Europapolitikzeiten spüren wir gleichzeitig Abschottungstendenzen nach, woher sie stammen und welche Rolle die Musik bei den drei kulturwandlerischen G-Themen Geld, Gewohnheiten und Gewalt spielt.
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„Unser Opernhaus ist für mich die Perle von Wrocław“, sagt uns Mirosława Adamczak, die charmante Pressesprecherin der Opera Wrocławska beim Kaffee. Und tatsächlich, innen wie außen macht die Oper was her, in ihrer abendlichen Beleuchtung an der hübschen Świdnickastraße. Keine fünf Minuten Fußweg von hier schlendert man zum grandiosen Marktplatz der Stadt, dem Rynek. Hier trifft sich die Stadt, hier kann man gut essen und trinken und außerdem das alte gotische Rathaus bewundern.

Das Wahrzeichen der Stadt entstand im Hochmittelalter, als bereits zigtausende Deutsche in diese Gegend des heutigen Schlesiens hergezogen waren. Durch Seuchen, Kriege und Barbareneinfälle hatten die polnischen Herrscher der Zeit Arbeitskräfte nach Polen gerufen, um ihr Ackerland zu bestellen und die Kleinstädte zu beleben. Von sogenannten Lokatoren angeworben, waren zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert rund 400.000 Menschen in Richtung Osten gezogen.
Im Jahre 1226 ruft der Polenherzog Konrad I. von Masowien Deutsche Ordensritter gegen heidnische Prußen aus dem Nordosten zu Hilfe. Die Welle der deutschen Neusiedler erreicht die Gegend von Breslau im 13. Jahrhundert. Der polnische Herrscher Kasimir der Große gestattet den Einwanderern sogar, ihr eigenes (Magdeburger) Recht zu gebrauchen. Die deutschen Neusiedler bringen ihre Gewohnheiten mit, vermehren das ihrige und fremde Geld und erheben schon bald den Anspruch auf überproportionale Mitsprache im neuen Land.
Denn eines hatte sich während aller Germanisierungen zumindest bis Anfang des 19. Jahrhundert hinein nicht geändert: Die hospites genannten Gäste aus den westlichen Ländern blieben in Polen immer in der zahlenmäßigen Minderheit. Die Entwicklung in Schlesien ist dabei ein Sonderfall, wanderten doch hier im 19. Jahrhundert zigtausende Deutsche ein, um vor allem die Tuchindustrie aufzubauen. Ursprünglich sollten sie nur helfen, aber sie kamen um zu bleiben.
Martin Kromer, der polnische Geschichtsschreiber, hält schon im 16. Jahrhundert fest, dass Kasimir der Große nicht duldet, dass seine eigenen Leute, also die ethnisch slawischstämmigen angestammten Einwohner, durch zu harte Arbeit und Abgaben bedrückt werden.
Germanisierung = Wie die Deutschen ihre Gewohnheiten mitbrachten
Das als ius teutonico bezeichnete deutsche Recht verbreitet sich dennoch immer weiter östlich. Und auch das Geld und die Gewohnheiten der Deutschen verdrängen das slawisch Polnische. Weil sie den neuen Altar in der Kirche St. Dorothea finanzieren, verdrängen die Deutschen die traditionell dort betenden Polen in die kleinere Barbarakirche in der Nachbarschaft. Hunderte Jahre später, im Jahre 1873, wird Deutsch in der Provinz Posen zur alleinigen Unterrichtssprache.
Die Neusiedler haben den Daumen drauf. Im Stadttheater von Breslau wird auch der Kapellmeister von einem Deutschen gestellt. Eugen Seidelmann dirigiert im 19. Jahrhundert volle dreieinhalb Jahrzehnte am Stadttheater. Nachdem dieses abbrennt, entsteht bis 1871 das neue Opernhaus. Wieder einmal durch deutsche Architekten und pünktlich zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs.
45 Jahre zuvor hatte an gleicher Stelle der Schleswig-Holsteiner Carl Maria von Weber gewirkt, als einer der ersten Generalmusikdirektoren überhaupt. Als 135 Jahre später die Nazis in Polen einmarschieren, wird wenige Monate danach Christoph Eschenbach in Breslau geboren. Seit Ende der 90er Jahre ist der Dirigent und Pianist eng mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival verbunden.
In Breslau geht Joseph Freiherr von Eichendorff zur Schule, bevor er die Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts schreibt. In Breslau geht Gerhart Hauptmann zur Schule, bevor er für seine dramatischen Dichtungen den Nobelpreis für Literatur gewinnt.
Exakt zu der Zeit, als sich der siebenjährige Amadeus Mozart mit seinem Vater auf einer 3,5 jährigen Europareise befindet, arbeitet in Breslau Gotthold Ephraim Lessing, der später das Lustspiel Minna von Barnhelm schreibt. Für den Dichter Christian Morgenstern ist Breslau Schulort und wichtiger Anlaufpunkt. Später wird er die Galgenlieder schreiben. In Breslau spielt Heinz Rühmann am Lobe- und Thalia-Theater. Breslau, Theater & Kultur, eine sehr deutsche Verknüpfung, wie es scheint.

Wir aber suchen keine deutschen Künstler im polnischen Wrocław. Gerne würden wir heute, am Karfreitag, in dieser Stadt etwas von Krzysztof Penderecki hören. Oder am allerliebsten die Sinfonie der Klagelieder von Henryk Mikołaj Górecki. Dem Schlesier Górecki, der in seiner Musik so viel Grenzkolorit der drei schlesischen Nachbarn Tschechien, Polen und Deutschland vereint. Aber wir wollen in die schöne Oper. Und da läuft gerade Mozarts Requiem.
Um es vorweg zu nehmen, trotz Wien und München wird die Inszenierung zusammen mit derjenigen des Prinzen von Schiras im Theater Regensburg zum Höhepunkt unserer Kulturreise.
Heute ein Requiem also, eine Totenmesse. Da liegen wir ja thematisch gar nicht so weit weg von Góreckis Sinfonie.
Mit Mozart haben wir natürlich einen Anstrich von Deutschem. Mozart war zwar weder Deutscher noch Österreicher. Aber er fühlte sich als Deutscher, wie er es mindestens einmal zu Papier brachte: „[…] was mich aber am meisten aufrichtet und guten Muthes erhält, ist, daß ich ein ehrlicher Teutscher bin. […]“.
Mozart fühlte sich als Deutscher, formal war er aber fürsterzbistümlicher Salzburger bzw. Einwohner des Erzstiftes Salzburg. Auch schon vor 250 Jahren war das Thema der Zugehörigkeit ein schwieriges Thema.
50 Jahre vor Mozarts Tod hatte Preußen den Habsburgern Maria Theresias den Teil Schlesiens rund um Breslau abgenommen. Nach drei schlesischen Kriegen waren zigtausende Menschen tot und die Polen mussten einmal wieder nach der Pfeife eines neuen Besatzers tanzen. Als Mozart 1791 starb, war Polen bereits einmal geteilt worden, stand zwei Jahre vor seiner zweiten und vier Jahre vor seiner dritten Teilung.
Nach etlichen Germanisierungswellen, ungezählten reaktionären Polonisierungen, nach drei schlesischen Kriegen, nach drei polnischen Teilungen und zwei Weltkriegen darf Polen nun endlich zur Ruhe kommen und ein bisschen endlich das sein, was es sein will. Nichts mehr mag man diesem Land, der Stadt Breslau, der Region und seinen Einwohnern mehr gönnen.
Zum Abschluss polnisch-deutsch-britische Impressionen
Es ist Ostersonntag: Wir sitzen auf der Bank an einer Straßenbahnhaltestelle. Eine ältere Dame nähert sich mit einem Einkaufskorb auf Rollen. Wir machen ihr Platz und rücken zusammen. Sie setzt sich und sagt „Danke“. Auf deutsch. Ob sie gehört hat, dass wir zuvor deutsch gesprochen haben? „Ich spreche deutsch“, sagt sie. Und platzt heraus, als ob dies ihre Chance ist. „Hier ist alles schlecht“. Warum, fragen wir. „Alle lügen, alle streiten, alle schlagen“. Und weiter: „Ich werde hier verfolgt. Weil ich deutsche Wurzeln habe.“
In der Stadt hatten wir gehört, jetzt würden die Leute auch wieder Breslau zu ihrer Stadt sagen, anstatt Wrocław. Es seien viele Deutsche hier. Und sie hätten auch einen schönen Bahnhof in der Stadt. „Built by the Germans“.
Nun, jetzt fahren wir zu diesem schönen Bahnhof, der uns gar nicht soo gut gefällt. Ein wenig streng ist er, mutet von außen an wie eine gedrungene Stadtburg des Deutschen Ritterordens. Drinnen setzen wir uns in ein englisches Costa Coffee Café, um auf den Zug nach Kattowitz zu warten. Ein Kaffee kostet hier 3,95 Euro (17 Złoty), den Kaffee gibts nur in Pappbechern. Ein Bettler kommt an unseren Tisch und hält die Hand auf. Der Mann hat leere traurige Augen. Ich habe noch eine letzte 2-Złoty-Münze und gebe sie ihm. Bei Costa kann er sich davon nichts kaufen, sie akzeptieren nur Bankkarten. Dieses Mal sind es die Briten, die in Polen lebensfeindliche Realitäten schaffen.
Nein, wir haben in Wrocław, der drittgrößten Stadt Polens, nicht das Deutsche an sich gesucht. Es kam einem auch so entgegen. Und es hat so einige Parallelen, die andernorts an deutsche Landen erinnert, wie zum Beispiel das christlich-geprägte Volksfest eines Johannismarktes, der in Breslau wie in Mainz eine feste Größe ist. Inwiefern die Religion in Breslau eine ganz gewichtige Rolle spielt, und was das mit dem Requiem Mozarts zu tun hat, ist Gegenstand unseres nächsten Artikels in der Reihe „Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern Zentraleuropas“.
Bleiben Sie dran.