Hamburg | analogo.de – Der 1989 in New York verstorbene Pianist Vladimir Horowitz sagte einmal: Es gibt drei verschiedene Arten von Pianisten: Jüdische Pianisten, homosexuelle Pianisten und schlechte Pianisten. Zu diesem Zeitpunkt kannte der jüdische und homosexuelle Klaviervirtuose Igor Levit noch nicht. Jener Igor Levit, der am Abend des 04. Dezember 2019 in der Hamburger Elbphilharmonie der Solist des Abends war, und das 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms spielte. Unter der Leitung von Paavo Järvi wurde Levit von der Kammerphilharmonie Bremen begleitet. analogo.de war zugegen und berichtet vom Ereignis.
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Obwohl der Hamburger Johannes Brahms sein halbes Leben mit der Kunstform des Klavierkonzertes haderte, und er am Ende auch nur zwei davon schrieb, gilt sein erstes Klavierkonzert als eines der erwähnenswerten Klavierkonzerte insgesamt. Dass es für Pianisten anspruchsvoll sein muss, konnte man an diesem Abend erleben. Um es wieder mit Horowitz zu beschreiben: Pianisten sollten Grimassen machen, wenn ein Stück denn mal schwierig wird. Und so hüpfte und wippte Igor Levit auf seinem Hocker hoch und runter, hin und zurück, dass man meinte, das Werk sei ohne beschleunigten Anschlag kaum auszudrücken.
Oder lag es an der zu wünschen lassenden Akustik des Großen Saales, dass der Akteur so in die Tasten haute? Die Architekten der Elbphilharmonie taten für die Akustik ihr Bestes, so hört man. Zehntausend Gipsfaserplatten sollen den Klang in alle Winkel reflektieren, tonal so rein und klar wie das geputzte Glas des Konzerthauses.
Jenes Haus ist an diesem Abend ausverkauft. Viele Hamburger kommen gerne und regelmäßig in ihre Elphi, schließlich will man das meisterlich vermarktete Konzerthaus nutzen. Viel zu viele Steuergelder flossen hinein, als dass man es nun nicht besuchen müsste. Und wenn man noch kein Klassiknarr war, so bietet die Elphi seit knapp drei Jahren die Gelegenheit. Im Pausengespräch mit einigen Besuchern erfährt analogo.de, dass wohl nicht wenige Besucher eher zum Sehen kommen als zum Hören. Das Motto: Einmal in der Elphi gewesen sein.
Am Ende trägt der hanseatische Stolz dazu bei, das mangelnde Verantwortungsbewusstsein von Amtsträgern weiterhin kritiklos zu ertragen bzw. es zu decken. Wenig mehr Denkmäler als die Elbphilharmonie eignen sich so gut, das Scheitern der Demokratie zu erklären. Rund 80 Millionen Euro sollte der Konzertbau ursprünglich kosten, es wurden rund 800 Millionen Euro. Über Geld spricht man nicht, man hat es, sei es, dass die anonymen und nicht organisierten Bürger für das Dilemma der Politik aufkommen müssen.
An Tagen wie dem 04. Dezember 2019 findet sich denn auch die Hautevolee der Gesellschaft ein. Im Parkhaus der Elbphilharmonie steigen nüchterne Menschen aus ihren grauen und schwarzen SUVs, ein Auto teurer als das andere. 15 Euro Parkgebühren für eine Stunde und ein paar Minuten, Peanuts für die Reichen des Landes, die nun den steuerzahlerfinanzierten Tempel der Musik für ihr Privatvergnügen beanspruchen dürfen.
Auf dem Weg vom Parkhaus ins Innere der Betonwüste lange trist-graue Gänge, in den Aufzug, dann die Rolltreppe, im Innern des Musiktempels grau verkalkte Wände ohne Bilder und Gemälde. Wer Unmenschliches sucht, sollte mal die Elbphilharmonie besuchen.
So wundert man sich auch nicht mehr angesichts der respektlosen Unhöflichkeit von Besuchern untereinander. So der Besucher, dessen Sitzplatz sich weiter hinten in der Sitzreihe befindet, aber nun an den bereits Sitzenden vorbei möchte: Keine Entschuldigungs-Geste, kein Dankeschön entspringt dem End-Fünfziger. Auch die überraschend häufig klingelnden Smartphones während des Konzertes sprechen nicht gerade für ein von Respekt getragenem Miteinander.
Angesichts von so viel Nüchternheit müssen die Musiker nun das Loch stopfen. Der Erfolgsdruck auf die Elphi ist enorm, und so geben sich die Stars die Klinke in die Hand. Heute – wie gesagt – Igor Levit aus Hannover. Genau jener Stadt, in der das 1. Klavierkonzert von Brahms vor 160 Jahren uraufgeführt wurde.
Hüpfende Elemente
Die Tonart heute: D-moll. Düster, klangvoll und ein wenig gewöhnlich nannte der Komponist Hector Berlioz Musikstücke in d-Moll. Sein französischer Kollege Charles Masson meinte, aus unerfindlichem Grunde sei in d-Moll die Schwermut mit Freude durchmischt. Und der Hamburger Komponist Johann Mattheson fand die Tonart ruhig und devot, für das sich „sonderlich Hüpfendes“ kaum eigne, eher etwas Fließendes.
Um es vorwegzunehmen: Hüpfend soll es werden. Dramatisch tragend und fast dissonant legen die Bremer Kammerphilharmonisten los. Seinen Einsatz erwartend, windet sich Igor Levit pathetisch auf seinem Klavierhocker. Wird es ein Abend der Dramaturgie?
Ebenso wie Vladimir Horowitz hat Igor Levit jüdische und russische Wurzeln. Horowitz‘ Logik folgend kann Levit also kein schlechter Pianist sein. Das ehemalige Wunderkind und der heutige Professor gilt als Beethoven-Könner und als technisch einwandfrei.
Den Beginn des Stücks spult Levit gekonnt herunter. Dann aber hält er seine Finger demonstrierend fern von den Tasten, als ob er unsichtbare Fäden von der Tastatur wegzieht. Um diese Weichheit später mit einer fast brutalen Kraft zu kontrastieren, das Tastaturmaterial fordernd. An anderer Stelle breitet Levit die Arme aus, dann hüpft er wieder auf seinem Hocker. Wäre der Konzertflügel ein Tennisschläger, längst wäre eine Saite gerissen.
Doch so sehr Levit auch reinhämmert, die Akustik im Saal lässt zu wünschen übrig. Doch nicht nur an der Resonanz hapert es. Nach nur wenigen Minuten ist die schon fast berüchtigte schlechte warme Luft der Elbphilharmonie zu spüren. Nach dem Konzert erklärt eine Angestellte gegenüber analogo.de, es gäbe schon seit dem Sommer 2019 Probleme mit der Klimaanlage.
Was solls, das Maestoso ist geschafft. Jetzt heißt es erst einmal ausruhen im D-Dur Adagio. Außerordentlich viele Zuhörer denken sich wohl, das ruhige Adagio für eine Hust-Pause nutzen zu können. In dreißig Jahren Konzerterfahrung haben die Autoren dieses Beitrags selten so viel Konzerthuster vernommen wie an diesem Abend. Die Antwort liegt nahe: In dreißig Jahren Konzerterfahrung war dies die vielleicht stickigste Luft aller Konzertsäle. Warum die Veranstalter den Zuhörern im Bewusstsein der schlechten Luft keine Runde Hustenbonbons spendierten, kann wohl nur als hanseatischer Geiz gewertet werden.
Zurück zum Adagio. Zunächst wie eine Etüde, mit viel Chromatik, insgesamt ein Stück schwierigen Charakters, so schwierig und unerfüllt wie die Liebe von Brahms zu Clara Schumann, auf dessen Liebeserklärung er Zeit seines Lebens vergeblich wartete. Brahms schrieb dieses Adagio für die Angebetete, ja das Adagio sollte ein Portrait von Clara Schumann werden.
Gleichwohl haucht dieses Adagio nicht die große Romantik wie etwa in Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, in dem sich Pärchen vor lauter Anmut in den Armen liegen. Sicher liegt dies vor allem an der Komposition an sich, aber auch die Bremer Musiker hatten ihren Anteil an einer stark kontrastierenden Stimmungslage. Da starten die 21 Violinen und 5 Celli mitten im Adagio in einem ungeahnt schrillen Fortissimo, um die Melodie in ein bemerkenswert langweiliges Piano zu überführen.
Der Saal kommt zur Ruhe, das Adagio senkt sich hinter dem Horizont wie die spätherbstliche Sonne dieses Nachmittags am westlichen Ende der Elbe.
Doch was passiert da? Brahms hatte doch eine geflissentliche Pause zwischen Adagio und dem Rondo des dritten Satzes gesetzt. Paavo Järvi aber eilt durch diese an sich kurze Pause, der Übergang viel zu hastig.
Im selbe Stile schlägt Levit nun die ersten Rondotöne. Wohlgemerkt er schlägt sie nicht an, er schlägt sie. Dass man das Rondo auch zarter mithin technisch gekonnter spielen kann, präsentierte etwa die Pianistin Lise de la Salle Anfang Februar in der Alten Oper Frankfurt. Das Rondo ansonsten virtuos dargebracht, eine Stärke von Igor Levit.
Hier nun endlich auch eine Melodie, die in den Ohren hängen bleibt. Nun läufts. Als Levit einmal endet, übernimmt das Orchester stimmig. Diese gelungene Verbindung, die fein-dynamische Übergabe des Staffelstabes, sie ist an diesem Abend eher selten zu beobachten.
Dennoch, das Auditorium zeigt sich erfreut, lauter Jubel, ja der Jubel lauter als das Konzert. Vielleicht sollten die Musiker zur Abwechslung mal auf den Rängen spielen. Liegt die Attraktion der Elbphilharmonie womöglich mehr in der Akustik des Beifalls als in der umstrittenen Konzertakustik des Großen Saales? Mehr Schein als Sein?
Levit jedenfalls überrascht mit einer überaus ruhigen Zugabe, geradezu losgelöst vom Klavierkonzert zuvor: Ein Excerpt aus Franz Schuberts Allegretto As-Dur aus den musikalischen Momenten op. 94. Nach der Komplexität des Vorangegangenen zwar ein gelungener Kontrapunkt, der aber die hüpfende Dramatik der 47 Minuten zuvor nicht vergessen macht. Igor Levit umarmt Konzertmeister und Dirigent, und schreitet recht schweigsam und devot von dannen.
analogo.de bemerkt: Überraschend unverblümt der Eindruck von Schuhgestank der Sitzhinteren im Auditorium eines Konzertsaales. Einerseits geschuldet durch die fast gleiche Höhe vom Schuh des Sitzhinteren und Kopf des Sitzvorderen und durch die fehlende räumliche Trennung der bestuhlten Sitzreihen gelangen die Schuhgerüche quasi direkt in die Nase der Sitzvorderen.
Wer nach der Pause noch Standvermögen hatte und noch Luft bekam, durfte sich am zweiten Stück des Abends erfreuen: Haydns 103. Sinfonie Es-Dur mit dem Paukenwirbel. Mit einem Allegro molto e vivace aus Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 ging in der Elbphilharmonie ein unruhiger Abend zu Ende.