Göttliche Bach-Violinkonzerte mit Leonidas Kavakos und dem Apollon Ensemble im Wiener Musikverein

Wien | analogo.de – Lesen Sie hier Teil 5 unserer Sommerserie Klassische Musik in großartigen Konzert- und Opernhäusern Zentraleuropas und fühlen Sie mit uns nach, welche musikalischen und kulturellen Elemente die Völker Zentraleuropas verbindet. Am 04. April 2024 besuchen wir das prachtvolle Konzerthaus des Wiener Musikvereins, und freuen uns auf einen göttlichen Violinabend mit Leonidas Kavakos und dem Apollon Ensemble. Ein Bericht.

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Das prachtvolle Konzerthaus des Wiener Musikvereins gilt als einer der Porsches der klassischen Musik. Hier gaben sich die Größten die Klinke in die Hand.  Schubert, Richter, Brahms, Strauss, Furtwängler, Böhm, Karajan, Bernstein, Abbado und aktuell Thielemann.

Wo sonst Sinfoniker wirken, erleben wir heute Musik, die eher für die Intimität eines Fürstenzimmers des 18. Jahrhunderts gedacht war. Auf dem Programm stehen Johann Sebastian Bachs Violinkonzerte BWV 1041, 1042, 1052, 1056 und die Sonate für Cembalo und Violine BWV 1014. Es gastiert Leonidas Kavakos, ein Herausragender aus zigtausenden Violonisten auf diesem Erdball, für das Rondo-Magazin „der Erste unter Gleichen“.

Es gibt keine Perfektion, sagt der Star und Sohn eines perfektionistischen Vaters. Und doch kann man diese erwarten, angesichts der Lobpreisungen im Vorfeld des Abendkonzertes. Im eigenen Magazin schreibt der Musikverein, die Interpretation seiner Kunst atme intellektuelle Klarheit, ohne Kälte zu verbreiten. Sein Ton vermöge empathisch zu singen oder sich „aushauchend“ in eine verlöschende „Kerze“ zu verwandeln. Und weiter: Sein Ton verfüge über Präsenz auch im Filigranen, ohne das Romantisch-Übersüße bemühen zu müssen.

Musikalische Vorfreuden im feierlich beschienenen Wiener Musikverein. Bildrechte: Wolf-Dieter Grabner / Musikverein Wien

Der Saal ist gut gefüllt, rund ein Drittel aller Sitze bleiben leer. Für einen Kammermusikabend ist das schon sehr ansprechend. Man vergleiche die fast leeren Ränge im Herkulessaal im Münchner Residenzschloss beim Violinkonzert mit Roman Kim, einem kaum minder talentierten Violonisten. Doch dazu später mehr in unserer Artikelserie. Der mit allen Vorschusslorbeeren angespriesene Leonidas Kavakos wird begleitet vom Apollon Ensemble. Das Ensemble: Zwei Violinen, ein Cello, ein Kontrabass, dazu ein Cembalo.

Für die alten Griechen war der Gott Apollon zuständig für die Musik, die Kunst, die Gesundheit und die Sonne. Gott Apollon gewann damals einen Wettbewerb gegen Gott Pan, auch weil Apollon eine solch schöne goldene Lyra-Leier hatte, ja das Symbol der Musik an sich. Pan spielte „nur“ auf einer Flöte. Die „goldene Leier“ des Abends ist eine Willemotte-Stradivari aus dem Jahre 1734. Kavakos könne dem Instrument neue Töne entlocken, so hört man. Über seine neue Stradivari sagt der Interpret, sie sei so schnell und reaktionsfähig, dass man sich fast schon zurückhalten müsse. Wie bei einem Porsche, möchte man ergänzen.

Wie interpretiert man am besten die Violinkonzerte JS Bachs auf einem wilden Porsche, und hier insbesondere das Largo und die Adagios? Dies ist entscheidend für das Erleben der so oft mathematisch-virtuos-rollenden Musik Bachs. Kavakos sagt, Bachs langsame Sätze führten uns an den Ort, an dem jede menschliche Seele gerne sein möchte.

Strawinsky meinte einmal, in seinem ganzen Leben habe er keinen einzigen Takt von Musik verstanden, aber er habe sie gefühlt. Jenseits jeder sachlich-notierten Notenlogik ist auch für Kavakos das Gefühl entscheidend. Zur Anschauung von ganz viel Gefühl eignet sich das erste Violinkonzert des Abends, das BWV 1041 in der maßvollen Klageweib-Tonalität von a-Moll. Das Andante kommt ein wenig schleppend daher, weist kaum den „gehenden“ Charakter aus, den es haben sollte. Der Musikautor Guido Fischer meint, auf seiner neuen Sony-CD berühre das Andante das Himmlische.

Liegt für uns heute abend in jenem Andante gar ein wenig zu viel Gefühl, konterkariert Kavakos die Stimmung mit einem virtuosen Allegro Assai im dritten Teil des Violinkonzertes. Bravorufe des Publikums, die Musiker blicken zufrieden drein.

Nun gehören die Violinkonzerte JS Bachs ja nicht unbedingt zu den ganz großen Reißern auf der internationalen Bühne. Die Großartigkeit etwa von Bruchs erstem Violinkonzert, Beethovens Violinkonzert op. 61 oder Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert op. 64 haben die Bach’schen Werke nicht. Wahrscheinlich weil sie mathematisch-nüchterner sind, mit weniger romantischer Dramatik ausgestattet. Obgleich man sich an ihrer strengen Form berauschen kann.

Das zweite Stück des Abends war auch Bachs zweites vollendetes Violinkonzert. Das BWV 1042 in E-Dur ist ein sehr bekanntes Werk, ein Dauerbrenner im klassischen Radio. Heute abend – wie gesagt – begleitet von den sechs Musikern des Apollon Ensembles, insgesamt eine etwas schlanke Lösung, der man mehr Raum wünschen würde, etwa durch eine Kammerphilharmonie. Was dem Ensemble an Raum fehlt, macht Kavakos mit seiner Brillanz wett.

Doch bevor Kavakos loslegt, führt Iason Marmaras am Cembalo in die Lesart des Stückes ein. Es ist zwar ’nur‘ ein Cembalo, also angesichts des großen Konzertsaales im Musikverein ein kaum stimmgewaltiges Instrument, aber die Musikergruppe präsentiert die Musik so, wie sie zu Zeiten Johann Sebastian und seiner Söhne Carl Philipp Emanuel (der genau vor 310 Jahren geboren wurde) und Wilhelm Friedemann (der genau vor 240 Jahren starb) geklungen haben muss. Immerhin.

Leonidas Kavakos und das Apollon Ensemble in Aktion. Bildrechte: Julia Wesely / Musikverein Wien

Die Wellenbewegungen rund um e, gis, h, die Trippelschritte auf dem tonalen Wellenkamm, das einleitende Allegro spielt Kavakos in gewohnt filigran-zügiger CD-Qualität. Aber ist das wichtig? Für ihn ist die Darbietung auf der Bühne sekundär, die Probe sei das eigentliche Magische. Man fühlt sich an Schrödingers Katze und den Beobachter-Effekt erinnert, also die Tatsache, dass sich Dinge ändern, wenn andere sie beobachten.

Das Ensemble hält gut mit, beeindruckt vor allem in der Fülle der Tutti. Timotheus Gavriilidis-Petrin beherrscht sein Violoncello, nur im Solo tönt es heute abend ein wenig schwach. Gegenüber dem ubiquitären Allegro ist das folgende Adagio eher unbekannt. Wir hören kristallklar-lyrische Töne der Violonisten Alexandros Sakarellos und Noé Inui.

Mit dem letzten Ton des Adagios ist der Konzertsaal mucksmäuschenstill, der Herzschlag im Auditorium auf unter 0,8 Sekunden reduziert. Ein pures Resonanzerlebnis, entspricht doch das durchschnittliche Intervall zwischen zwei menschlichen Herzschlägen (0,8 Sekunden) der Dauer einer musikalischen Bewegung beim Metronom-Maß adagio (0,79 bis 0,91 Sekunden).  Der Vergleich wurde dem ZEIT UND RAUM BUCH – Band 1: DIE ZEIT entnommen.

Das dritte Konzert des Abends ist ein reines Cembalokonzert Bachs, das mit knapp 10 Minuten Dauer kurze BWV 1056 in f-Moll. Marmaras fliegt über die Cembalo-Tasten, kommt einmal ein wenig ins Stocken. Dann folgt das weithin bekannte Largo Bachs, ein weiterer Barock-Klassiker, als Tonfolge weithin übernommen aus Bachs Kantate Ich steh mit einem Fuß im Grabe, BWV 156. Der Text der neun Jahre zuvor veröffentlichten Kirchenkantate schwingt mit: Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt‘. Herr, wie du willt, so schicks mit mir.

Bis zum finalen Presto zupft das komplette Ensemble im Pizzicato, zweieinhalb Adagio-Minuten lang das Cembalo begleitend. Die bewegte Musik des folgenden Prestos ein kruder Gegensatz zum ruhigen Adagio. Mit einigen dramatischen Akzenten liegt nun ein wahrhaftiges Konzert in der Luft. Gavriilidis-Petrin bleibt in den Solopassagen des Cellos ein wenig fad, sicherlich auch der Komposition geschuldet. Ein letzter langgezogener Strich der Streicher, Applaus – und Pause.

Konzertsaal des Wiener Musikvereins. Bildrechte: Reinhold Leitner / Musikverein Wien

Eine Freude, bei allem Gold und Prunk aus dem Saal zu schreiten. Auffallend das egoistische Verhalten einiger Gäste, die andere Gäste nicht aus ihrer Sitzreihe lassen, sondern ignorant an ihnen vorbeischreiten.

Ebenso wie der güldene Konzertsaal betört das Konzerthaus in Pausenräumen und Eingangshalle mit warmen Tönen und Lichtern. Ocker, Goldtöne, Champagner, Jägergrün. Draußen, neben der Theke mit den Schnittchen und Sekt, steht eine junge sympathische Polizistin. Österreichische Sicherheitsvorkehrungen im Tempel der Musik.

Nach der Pause schlägt die Stunde für den Cembalisten. BWV 1014 in h-Moll steht auf dem Programm, eine Sonate für Cembalo und Violine. Eine junge Frau dreht für Marmaras die Notenblätter. Die ersten Tonsequenzen des Adagios erinnern an das romantische Märchen Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Das folgende Allegro ein bewegtes Zwiegespräch zwischen Marmaras und Kavakos. Das dreiminütige Allegro beenden sie nicht zeitgleich. Im dritten Teil, dem Andante, ein kleiner Kontrast der Ungleichen zwischen Cembalo- und Violinpassagen. Kavakos wirkt hier gehaltvoller als Marmaras. Langer geräuschvoller Applaus nach dem finalen Allegro, Marmaras und Kavakos umarmen sich. Welche Akustik in diesem Konzertsaal !

Nun erst entfernen Helfer den Deckel des Cembalos. Wir sind vielleicht nicht die einzigen, denen das Cembalo zu sanft erschien. Den Deckel erst jetzt zu entfernen, ein Stück vor Ende der Veranstaltung, ein wenig spät? Das letzte Stück des Abends ist Bachs Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo in d-Moll (BWV 1052). Der dynamische Akt der ideale Rausschmeißer für einen Konzertabend.

Ein geniales Werk schwungvoll-konzertanter Musik, mit seinen Taktschlägen an einen beschleunigten Sirtaki erinnernd. Selbst die schnellen Passagen des ersten Allegros tragen Kavakos & Freunde leise-virtuos vor. Griechisches Feuer. Für den ersten Teil gibts extra Applaus und Jubelrufe. Das Adagio plätschert tragend-wiegend vor sich hin und endet andächtig still.

Nun das letzte fröhliche Aufbäumen. Wie viele Noten wohl alleine bei diesem Allegro anklingen? Jetzt sucht Kavakos verstärkt Sichtkontakt zu seinen Mitspielern, denen er den Rücken zukehrt, vor allem zum Cellisten und Bassisten. Um Gleichzeitigkeit, also die Harmonie zu sichern. Vielleicht auch um sicherzustellen, dass man in dieser letzten Sequenz dieselbe Atmung hat. Derselbe Herzschlag, dieselbe Atmung, ein Abend der Harmonie.

In den letzten Zügen verliert der Solist den Bogen aus den Händen. Das Drama ist beendet. Riesiger Applaus und Jubelrufe. Es war ein gutes Stück Arbeit heute Abend, das merkte man den Vortragenden an. Auf gewisse Weise sieht sich Kavakos, ebenso wie Johann Sebastian Bach, als Arbeiter. Ein ganz normaler Arbeitstag also?

Dass man bei aller Wildheit der Partitur auch mal den Bogen verliert, geschenkt. Man denke an den Orchesterviolonisten, der sich bei Beethoven beschwerte, die Stelle sei unspielbar. Darauf Beethoven: „Als ich das komponierte, wurde ich von Gott dem, Allmächtigen inspiriert. Meinst du, ich kann deine mickrige kleine Fiedel berücksichtigen, wenn er mit mir spricht?“

Vor Mendelssohn-Bartholdy und Schumann war Johann Sebastian Bach kein Großer in der Musikwelt. Erst durch sie avancierte Bach zum geschätzten Musikgott, über 80 Jahre nach seinem Tod. Auch Kavakos mied Bach eine lange Zeit, was mit seinem – wie er sagt – „Erweckungserlebnis“ zu tun hatte. Kavakos enthielt sich zehn Jahre lang von Bach, um seinen eigenen Weg zu finden, um den ‚Geist der Musik‘ zu erreichen, so berichtet das Musikmagazin Rondo. Da schimmert der väterliche Anspruch durch.

Echte Götter können sich maximal selber kritisieren. Wenn Apollon im Götterhimmel Olymp zu seiner Lyra sang, benötigte er keine Likes und Sternchen. Und seinen Lorbeerkranz, ja den trug er aus selbstbestimmtem Trotz. Heute, in Wien, dem Mekka der klassischen Musik, im Wiener Musikverein, dem wahrhaftigen Tempel der Musik mit all seinen Säulen, Karyatiden und Reliefs, ja einem der irdischen Tempel der klassischen Musik, hat Leonidas Kavakos einmal wieder unter Beweis gestellt, warum man ihn den Geiger der Geiger nennt.

Violingott Kavakos zog es derweil in den nächsten irdischen Musiktempel, zu den BBC Proms Konzerten in die Royal Albert Hall. Hier spielte Kavakos am letzten Samstag in einem noch kleineren Kammermusikformat, unter anderem das Erzherzog-Klaviertrio in B-Dur des Musikgottes Beethoven.

Konzerthaus des Wiener Musikvereins an einem lauen Aprilabend. Bildrechte: Rainer Winters