Deutscher Presserat billigt Glyphosat-Verniedlichung

Berlin | analogo.de – Der Deutsche Presserat hat am 01. Dezember 2015 beschlossen, dass WELT Online das Pestizid Glyphosat als harmlos bezeichnen darf. Dem Schwesterblatt der Bildzeitung war vorgeworfen worden, die tatsächlichen Folgen und Risiken des giftigen Pestizids in einem Beitrag zu verniedlichen.

Konkret lautete der Vorwurf, die Überschrift Ein harmloses Herbizid soll geopfert werden sei ein ethischer Verstoß gemäß Ziffer 1 (Wahrhaftigkeit) und Ziffer 2 (Sorgfalt) des Pressekodexes, weil es eindeutig sei, dass das Herbizid Glyphosat giftig ist. Dies, so die Beschwerdetext, schreibe nicht nur der Hersteller auf die im Handel verkauften Produktverpackungen, sondern gleichwohl müssten Landwirte für eine fachgerechte Nutzung instruiert werden. Zudem gebe es zahlreiche Studien, die die tödliche Wirkung auf Tiere belegen. Auch für Menschen sei Glyphosat eindeutig giftig: Studien belegen einen Zusammenhang mit Bluthochdruck, Stoffwechselerkrankungen, Autismus und sehr prominent nun auch Krebs. Das Mittel darf nicht an Haut und Augen gelangen.

Als konkretes Beispiel wurde eine Studie der Universität Landau zu Amphibien angeführt. Dr. Carsten Brühl vom Institut für Umweltwissenschaften: „Nach 24 Stunden waren alle Frösche tot. Selbst bei 90% niedrigerem Pestizidaufwand als in der Praxis waren einige Produkte akut toxisch. Bei 40 bis 100% der Populationen waren 86% aller Produkte tödlich. Der Grund: Die Haut von Amphibien (z. B. Frösche) ist für Pestizide quasi durchlässig für wässrige Lösungen wie in Wasser aufgelöstes Glyphosat – im Gegensatz zur dichteren Haut von Vögeln.“

Brisant ist der zeitliche Zusammenhang der Beschwerde beim Deutschen Presserat und die offline-Stellung des Artikels zwei Stunden später. Obwohl dem Presserat ein Screenshot vorliegt, der beweist, dass WELT Online den Beitrag kurz nach der Beschwerde für eine Weile aus dem Netz nahm, gehen weder WELT Online noch der Presserat auf diesen zeitlichen Zusammenhang ein. Hat der Presserat womöglich einen direkten Draht zum Springer-Verlag, wo der beschuldigte Verlag vier Monate vor der eigentlichen Verhandlung des Beschwerdeausschusses einfach mal vorgewarnt wird?

Der Beschluss des Presserates erfolgte nicht einstimmig. Eine Person der mitwirkenden Mitglieder stimmte für die Beschwerde, wonach eine Rüge für WELT Online ausgesprochen worden wäre. Die Mitglieder des 2. Beschwerdeausschuss sind:

Katrin Saft (DJV) – Vorsitzende und Angestellte der Sächsischen Zeitung

Sigrun Müller-Gerbes (DJU) – Angestellte der Neuen Westfälischen

Walter A. Fuchs (VDZ) – Geschäftsführer des Pabel-Moewig Verlags

Max Hägler (DJU) – Angestellter der Süddeutsche Zeitung

Jan Lehmann (DJV) – Angestellter der Nordwest-Zeitung

Hermann Neusser (BDVZ) – Angestellter des General-Anzeigers Bonn

Ulrich Eymann (BDVZ) – Angestellter des Main-Echo Verlags

Doch sechs der oben aufgeführten Personen lehnten die Beschwerde ab, da es sich um einen Meinungsbeitrag gehandelt habe. Der stellvertretende Chefredakteur der WELT-Gruppe gab in seiner Stellungnahme an, die Überschrift gebe die Meinung des Autors Ulli Kulke wieder. Eine Studie des Meinungsbeitrags offenbart, wie Kulke als Verfechter von genmanipulierter Nahrung dem Gen-Riesen Monsanto alle publizistischen Türen öffnet. Der Artikel steht im Zusammenhang mit der Neubewertung der EU für eine neue Zulassungsperiode. Nicht nur dem Bundesamt für Risikobewertung haften Vorwürfe an, einen intransparenten und fatalen Zulassungsprozess voranzutreiben. Lobbycontrol hatte am 02. Dezember 2015 an die EU-Kommission appelliert, dass 100 renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Bereich der Krebsforschung die Entscheidung der EFSA und den zugrundeliegenden BfR-Bericht scharf kritisieren. Beide enthielten schwerwiegende Mängel und seien in Teilen „wissenschaftlich inakzeptabel“. Gleich als ersten Aspekt kritisiert der Brief das intransparente Zustandekommen des Berichts, der auf unveröffentlichten Studien der Industrie beruhe, so Lobbycontrol.

Mit Ziffer 1 besprach der Pressrat am 01. Dezember 2015, ob WELT Online  die Wahrheit achtete und die Öffentlichkeit wahrhaftig unterrichtete. Sie sind das oberste Gebote der Presse. Autor Kulke schrieb zwar, dass die Behörden davon ausgehen, dass bei einer sachgerechten Anwendung des Herbizids keine Gesundheitsgefahr besteht. Hätte Kulke aber sorgfältig (Ziffer 2) recherchiert, hätte er schreiben müssen, dass die Landwirtschaft Glyphosat eben nicht sachgerecht anwendet.

Hier ist dem Presserat vorzuwerfen, dass er diese Falsch-Aufklärung übersieht. Auch die Toxizität auf Frösche sei kein ausreichender Beweis für die Widerlegung der Meinung des Autors, schließlich sei die Toxizität des hauptsächlich verwendeten Pestizids umstritten.

Hat die Selbstkontrolle der Presse nun versagt? analogo.de meint: Ja. Kann man in diesem Fall von Lügenpresse sprechen? Wir meinen: Nein. Aber dieser Fall zeigt, wie interessengetrieben und relativ jegliche Berichterstattung ist. Bei anderer Zusammensetzung des Presserates, zum Beispiel mit mehr Bloggern oder Fachjournalisten, wäre womöglich eine Rüge herausgekommen. So entschieden mehrheitlich normale Zeitungsangestellte über die Beschwerde. Zeitungsangestellte, die ähnliche Fälle von ihrer eigenen Zeitung kennen dürften und mit Kritik an der eigenen Riege sehr vorsichtig umgehen.

Der BUND zeigt wunderbar in einem Video auf, wie die Meinungsmache zur Wiederzulassung des gefährlichen Pestizids funktioniert:

Eine wesentliche Erkenntnis bleibt: Auch mit der Unterschlagung von wichtigen Fakten (z. B. die nicht sachgerechte Anwendung) und mit der Deklaration als Meinungsbeitrag machen Zeitungen Politik. Was dem Zeitungsleser seit langem klar ist, versucht die Presse leider immer wieder von sich zu weisen.

Bei so viel mangelnder Objektivität, wundert es da, dass über 45% der Bundesbürger Zeitungen und anderen Medien derzeit nicht mehr vertrauen? analogo.de meint: Glyphosat steht sinnbildlich für die derzeitige Krise in der deutschen Presselandschaft.

Wer sich tiefgreifender über die Verstrickungen aus Politik, Wirtschaft & Wissenschaft am Beispiel von Glyphosat informieren will, stöbere in unserem 135-Seiten starken Wörterbuch Glyphosat und dem dazugehörigen sechsteiligen Glyphosat-Report.

Auch der Deutsche Presserat macht Politik. Bildrechte: Thomas Wolter auf Pixabay 4927976_1920