Konzertanter Tangoabend in Sønderborg mit Astor Piazzolla, Johann Sebastian Bach und dem Isabelle van Keulen Ensemble – SHMF

Sønderborg | analogo.de – Am Abend des 01. August 2019 stand im dänischen Grenzstädtchen Sønderborg alles auf Integration. Während sich Dänemarks Studenten dem größten Umzugstag des Jahres widmeten, erlebten rund 500 Zuhörer eine fusionistische Meisterleistung im Konzertsaal Alsion. Als Veranstaltung des Schleswig-Holstein Musik Festivals war der Komponist des Jahres 2019, Johann Sebastian Bach, gesetzt. Die Fusion bestand in der Verknüpfung mit dem Tangomann Astor Piazzolla, der Fusion von Barock und Tango, Argentinien und Deutschland, Amerika und Europa, Nordschleswig und Südschleswig, und Dänemark mit Deutschland. Wo Verknüpfungen, da Reibungspunkte. Wo Reibung, da Emotion. Wer anders als die Musik sollte ein solches Drehbuch richten? analogo.de war beim Konzertereignis zugegen und berichtet – ganz von vorne.

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Irgendwann fing das stetig wachsende Schleswig-Holstein Musik Festival an, seine Konzerte auch im Grenzland des nördlichen Nachbarstaates Dänemark zu präsentieren. In Zeiten der Abgrenzung, wo Dänemark Zäune baut und das Nationalbewusstsein durch Flaggenpolitik verstärkt, öffnet sich das Land zumindest im Ansatz für anderes Kulturgut.

Wenn schon keine dänische oder deutsche Musik, so wurde es an diesem Abend echte komplexe Fusionsmusik. Integrationsbewusst wurden die Zuhörer zweisprachig begrüßt. Die Vertreterin des Konzertpatrons Bund Deutscher Nordschleswiger sah die Gelegenheit, die „Ströme von Nord und Süd“ zu verschmelzen; wird die Minderheitenfrage im dänisch-deutschen Grenzland doch seit Jahren außergewöhnlich robust diskutiert.

Vor 100 Jahren am 28. Juni 1919 vom Friedensvertrag von Versailles zur Volksabstimmung gezwungen, entschied sich die überwältigende Mehrheit der Bewohner des bis dahin zu Preußen gehörenden Landstrichs für die Zugehörigkeit zur Nation Dänemark. Obwohl dieser Landesteil fast immer zu Dänemark gehörte und nur 56 Jahre lang zum deutschen Herzogtum Schleswig, standen fortan rund 30.000 Bürger vor einschneidenden Veränderungen.

Anstatt sich in Dänemark zu integrieren, pflegt die deutsche Volksgruppe im südlichen Dänemark die Eigenheiten ihrer Sprache und Kultur. Dabei will die kleine Volksgruppe Brückenbauer zur alten Heimat sein, wie viele Türk-Deutschen sich als Brückenbauer zur Türkei verstehen. Dass dabei das kleine Dänemark tendenziell größere Vorsicht bzgl. einer Annäherung an den vermeintlichen Dieb Deutschland bzw. das Herzogtum Schleswig walten lässt als umgekehrt, ist verständlich. Lassen sich die Worte „Brückenbauer“ und „Ewiggestrige“ in politischer Hinsicht austauschen, kann in kultureller Hinsicht die Faszination einer Fusion à la Piazzolla in der Vermischung der Fluten unterhalb der Brücke liegen. Auch in dieser Hinsicht war die Veranstaltung im Alsion dieses Abends ein Experiment.

Es wurde ein konzertanter und gesangsloser Tangoabend, der es in sich hatte. Das Motto des Abends: „Tango fugato“, eine Wortspielerei auf Piazzollas mit Bach geteilte Liebe zur Fuge. Etymologisch interpretiert, bildet die Fuge (lat. fuga) die Flucht der verschiedenen Stimmen voreinander ab. Mit viel Vorstellungskraft lässt sich in der Musik Piazzollas seine eigene Flucht durch die Länder und Kulturen erleben. Piazzolla stammte aus einer Familie von Wirtschaftsflüchtlingen. Die Familie aus Italien stammend, als Säugling in Argentinien geboren, als italienisch-argentinische Minderheit in New York aufgewachsen, die Musik Argentiniens und Deutschlands vereinend, brachte er seine Musik auf den alten Kontinent zurück. Piazzollas Lebenswerk als Epos eines Flüchtlings mit mehreren Heimaten – am 01. August 2019 ins kulturverbindende Schleswig-Holstein Musik Festival adaptiert.

Fusion aus Tango und Barock

Mit dem Komponisten Astor Piazzolla war ein wunderbares Medium ausgewählt, die Spannung nicht nur zweier Kulturen, sondern auch Musikrichtungen zu verdeutlichen. Dass der Tango wie der Jazz eine pan-globale musikalische Mischform ist, und Johann Sebastian Bach interpretiert werden kann wie kein anderer Komponist, ließ den Abend geradezu natürlich geschehen. Es war keine Frage, ob sich Tango und Barock vertragen, sondern nur wie es interpretiert würde.

Diesen Part übernahm das Isabelle van Keulen Ensemble. Die Instrumente: Violine, der kontrapunktische Bass, der schwarze Flügel und natürlich das Tangoinstrument Bandoneón. Um es gleich zu sagen, die musikalischen Emotionen von vier Diamanten der klassischen Musikszene schwappten auf das Publikum über. Emotionen, die nur ausgereifte Künstler und Künstlerinnen zu zaubern wissen.

Gleich zu Beginn der Veranstaltung erlöschen die Lichter des Saals. Aus dem Seiteneingang der Bühne entströmen zarte Violinenklänge der „Goldberg-Variationen“. Noch in der Dunkelheit kommen die Akteure gemächlichen Schrittes auf die Bühne und nehmen ihre Positionen ein. Ulrike Payer am Flügel, Rüdiger Ludwig hinter seinem Kontrabass, Christian Gerber, den rechten Fuß auf einem Klavierhocker und sein Bandoneón balancierend.

Licht erhellt den Saal und zugleich setzt eine gewaltige Musik ein, die wohl manchen Zuhörer vor Überraschung Luft holen lässt. Astor Piazzollas „La Camorra I“ ist ein Stück kraftvoller, ja gewalttätiger Tango. Die Verstörtheit der italienischen Mafia lässt grüßen. Die Linien des Tangos jederzeit erkennbar, zwischendurch jazzig wie ein Boogie. Und das Publikum belohnt ein starkes Finale mit heftigem Applaus.

Das Bachdoneón

Unverfälscht klassisch-barock das folgende Streicherkonzert in d-Moll (BWV 1043). Kein Ton zuviel, während Isabelle van Keulens Violine das Bandoneón melodiesicher in einer Melancholie gefangenhält. Im Largo ma non tanto veranschaulicht Christian Gerber, dass das Bandoneón kann, was die Violine vermag. Bandoneón und Bach, da ist die Fusion des Bachdoneón. Im folgenden Allegro liefern sich Ulrike Payer am Flügel und Christian Gerber eine wahre Konkurrenz um Virtuosität, und das trotz der kalten Hände Payers. Das Publikum im Bann der Musiker, erfreut gefangen zwischen Johann Sebastian Bach und Astor Piazzollas Tango.

Nach Bach, Piazzolla und wieder Bach folgt Piazzolla mit der berühmten Engel-Serie. Die Geschichte eines Engels, der letztendlich ermordet wird. Tango für erhöhten Pulsschlag und auch heute der Höhepunkt des Abends. Zauberhaft lässt Payer die letzten Töne der Einleitung verbleichen. Danach das Milonga del Ángel, die schönste Sinfonie des Abends. Hier perfekter Zusammenklang der Instrumente, dort der tief-schnurzende Konzertbass Rüdiger Ludwigs. Ein Moment, in dem sich Verliebte nur noch in die Augen schauen wollen. Im dritten Teil geschieht der Engelstod: Van Keulen sportlich in Rückenlage, geradezu verschmelzend mit ihrer Violine.

Dann die Besonderheit orchestralen Tangos: Aus einer mannifesten Virtuosität geleitet das Ensemble das Publikum in die harmonische Ruhe eines Kaffeehauses von Buenos Aires, in dem zwei Bohemians einen Espresso trinken. In der Wiederauferstehung des Engels lässt sich schließlich gut erfassen, was mit tangofizierter Fuge gemeint ist. Was für ein Ensemble, dieses van Keulen Ensemble, das im Alsion vier unterschiedlichste Stimmen in Tangomanier zum Klingen bringt. Jetzt perlen Payers Hände über die Tasten so leicht wie Quellwasser. Die Pause dient zum Luft holen und runter kommen – für beide Seiten im Saale.

Der geworfene Blumenstrauß

Im zweiten Teil genießt das Publikum noch einmal Temperament und Harmonie zwischen den Künstlern. In Bachs hörbarer Sonate für Violine und Klavier in d-Moll (BWV 1017) gehts los ohne Bandoneón und Bass. Piano und Violine brillieren mit Eigenleben. Mit Leichtigkeit spielt Payer das Allegro. Viel Applaus. Doch jetzt wirds dissonanter. Das quetsch quetsch der Fuga y misterio ist gewöhnungsbedürftig. Und weil es so schrecklich war, belohnt Piazzolla mit dem schönsten Stück überhaupt.

Das Soledad kommt daher wie das Intro eines James Bond Themes. Fugata und Tangata zum Abschluss nochmals mit Bandoneónweltschmerz satt. In Südamerika würde Gerber mit seinem Spiel die Frauen zu Liebeserklärungen provozieren. Die Autoren dieses Beitrags erlebten solche Liebesbekundungen während eines Tangoabends mit Rodolfo Mederos im Teatro Solis in Montevídeo. Was den Uruguayern der geworfene Blumenstrauß, war den Sonderbürgern der heftige Beifall.

Das Ensemble ließ sich nicht lumpen und schenkte den rund 500 Zuhörern Piazzollas Allegro tangabile und seine filigrane Romanze des Teufels.

analogo.de meint: Ein geniales Konzert.

Wissenswert auch: Genau ein Jahr nach der letzten Schleswiger Volksabstimmung am 14. März 1920 wurde im fernen Buenos Aires der kleine Astor Piazzolla geboren.

Isabelle van Keulen Ensemble, Bildrechte: Gesine Beck

 

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