Manon: Ein emotionaler Opernabend im Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Wiesbaden | analogo.de – Bei der aktuellen Inszenierung des Tannhäusers im Staatstheater Wiesbaden sehen die Opernbesucher eine Frau mit nacktem Busen. Ob der Ausblick auf Nacktheit mehr Besucher anziehen soll? Jedenfalls kam zu einer neuerlichen Vorstellung eine Vertreterin der Straßburger Opéra National du Rhin extra aus dem fernen Elsass angereist. Auf die ebenfalls in Wiesbaden derzeit laufende Oper Manon angesprochen, sagte die Dame dahingegen einem Vertreter unserer Redaktion, sie hasse Manon. Die Musik von Jules Massenets Oper würde – wie bei fast allen französischen Opern – nichts hergeben. Aber für die Wiesbadener Aufführung von Richard Wagners Tannhäuser sei sie extra aus dem Elsass angereist.

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So weit zu einer französischen Opernkritik einer französischen Oper in Wiesbaden. Wer sich dennoch am 09. November 2017 ins festliche Große Haus des Hessischen Staatstheaters von Wiesbaden wagte, sah eine der großartigsten Rollen für weibliche Opernsängerinnen: Die zugleich naive und reizend verführerische Manon Lescaut. Die Sprache des Abends war das der Originalkomposition entsprechende Französisch. Die deutsche Übersetzung gabs wie immer in Übertiteln. Der Chor und das 40-köpfige Hessische Staatsorchester unter Leitung von Jochen Rieder hatten ihren verdienten Anteil an einer emotional intensiven Vorführung, die einen für manche Französinnen musikalisch wohl überraschend abwechslungsreichen Abend bot. Das Publikum dankte es mit einem Saal voller Bravorufe.

Bei so vielen Emotionen am Abend des 09. November wird so mancher Zuschauer Schnappatmen bekommen haben. Emotionen, die die beiden Hauptakteure mit Stimme und Charisma ins Publikum schleuderten. Wahrlich, nichts für schwache Nerven oder angeschlagene Gemüter, aber für Menschen, die sich von Ausnahmekünstlern in deren Begeisterung für echte Dramatik mitreißen lassen wollen. Wiesbaden erlebte eine stimmgewaltige Manon (Sopran), die stellvertretend für alle energiegeladenen jungen Mädchen der Vergangenheit und der Gegenwart etwas sehr Einfaches verkörperte: Die Sehnsucht auf ein Leben in Freude, Freiheit und Geld – sei es als Geliebte des Edelmanns De Brétigny (Bariton).

Wie ein roter Faden zieht sich diese Schicksalsgeschichte durch alle Epochen des Daseins. Junge Menschen werden von ihren Familien nicht auf das reale Leben vorbereitet. Behütete Mädchen werden zu gefallenen Mädchen, hart erzogene Jungs zu gebrochenen Kreaturen, die andere dafür büßen lassen.

Foyer
Die verführerische Welt des Luxus: Staatstheater Wiesbaden, Foyer des Großen Hauses, Foto: Sven-Helge Czichy

Durch die eigenen starren Lebensweisen nehmen die Alten – auf der ganzen Welt – den Jungen entweder bewusst oder unbewußt die Freude am Leben, denn sie versuchen den Jungen ihre Lebensweisen aufzuzwingen. Lebensweisen, die Festhalten mit Liebe verwechseln.

Tatsächlich wird Liebe immer noch falsch verstanden, denn Liebe hat unter anderem auch was mit Loslassen zu tun. Und wenn es nur das Loslassen des kleinen Tisches ist, an dem man zusammen mit dem Geliebten gesessen hatte. Zu Manons Arie Adieu, notre petite table resonierte das Orchester im hauchfeinsten Pianissimo. Wunderbar!

Wiesbaden erlebte auf der Bühne eine 16-jährige Manon, deren Lebenslust in einem Kloster erstickt werden sollte. Sie in der grauen Schuluniform, wartend auf einem hektischen Bahnhof, trifft auf das teuer ausgestattete Mätressen-Trio eines reichen Angebers. Wie eine Elster wird sie von der Aufmachung dieser Frauen angezogen. Jugend und Schönheit, gepaart mit Unerfahrenheit macht sie zur leichten Beute rücksichtsloser Männer, die sich mit der zarten Menschenblüte das Ego aufpolieren wollen.

Nach reichlich Jeans und Leder auf der Bühne, wechselte die moderne Inszenierung Bernd Mottls ins Pompöse des Barocks, als Manon schließlich – am Arm eines reichen Mannes – sich am Ziel ihrer Träume angekommen glaubte. Doch ihr fehlt jegliche eigene finanzielle Freiheit. Der Luxus an der Seite eines reichen Langweilers wird auf die Dauer fad und auch die Rückkehr zu ihrer echten Liebe befriedigt sie nicht wirklich. Zu sehr hat sie sich schon an das luxuriöse Leben trotz Abhängigkeit gewöhnt und betäubt ihr seelenloses Dasein mit jeglicher Art von Drogen.

Manon
Opernausschnitt aus aktueller Oper „Manon“ von Jules Massenet im Staatstheater Wiesbaden, in Szene: Cristina Pasaroiu, Nathaniel Webster und Chor, Inszenierung: Bernd Mottl, Foto: Karl und Monika Forster

Das schreckliche Ende bekommen die Zuschauer bereits bei der Einnahme ihrer Sitzplätze – noch vor Beginn der Vorstellung – präsentiert. Eine tote Manon liegt auf der Bühne, während im Hintergrund zwei Frauen aus dem Rotlichtmilieu auf Kundschaft warten.   

Nicht unerwartet war die großartige Sopranistin Cristina Pasaroiu der Star des Abends. Die Rumänin wirbelte mit geschientem Fuß über die Bühne und gab stimmlich alles. Viele Herzen aus dem Publikum waren bei ihr, als sie hinkend die Bühne verließ. Was für eine Frau!! Im ersten Akt hatte Pasaroiu im Stück Je suis encor tout étourdie gezeigt, wie sehr Frankreich und Rumänien sich im Kessen ähneln. Im dritten Akt wurden die Zuschauer verzaubert, als Pasaroius warm-dichte Obertonlagen durch den Raum drangen und Lichtmeister Ralf Baars die güldenen Logen des Zuschauerraums mit gedämmtem Licht bestrahlte. In der prächtigen „Gavotte der Manon“ Obeíssons, quand leur voix appelle glänzte Pasaroiu mit einem gar wärmeren Koloratursopran als so manches Mal ihre berühmte Kollegin Anna Netrebko zuvor.

Obeíssons, quand leur voix appelle: Sollte doch eigentlich die unbekümmerte und zugleich hemmunglose Manon ins Kloster, besingt sie nun angesichts ihrer Jugend und ihres neuen Luxuslebens ihre narzisstischen Freuden. Ins Kloster geht stattdessen ihr studentischer Ex Des Grieux (Tenor), der sich betrogen fühlt. Im dritten Akt sang der Rumäne Ioan Hotea als Des Grieux sein schönstes Stück des Abends Ich bin allein! Endlich allein!. Hotea und Orchester füllten die Bühne mit tonaler Energie. Am Herbstabend des 09. Novembers hing die Spannung der enttäuschten Liebe über der Bühne des Hessischen Staatstheaters.

Weniger enttäuschend als penetrant störend waren übrigens die wabernden Bühnennebel, auf den die Macher besser verzichten sollten. Dennoch sei versichert: Das Schnappatmen des Abends verdankte das Publikum einer die Emotionen ansprechenden Vorstellung.

Noch drei Veranstaltungen der Manon sind in diesem Jahr zu sehen: Eine am heutigen Abend, zwei weitere am 10.12.2017 und 15.12.2017.

Haus
Staatstheater Wiesbaden Großes Haus Außenansicht, Foto: Sven-Helge Czichy
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